Angela Merkel: „Ich werde mich nicht entschuldigen“

Im ersten Live-Interview seit dem Ende ihrer Amtszeit äußert die Ex-Kanzlerin sich zum Ukraine-Krieg, ihrem Verhältnis zu Putin und dem Leben als Kanzlerin a.D.

Merkel bei ihrem ersten Interview seit Ende ihrer Amtszeit im Berliner Ensemble mit dem Journalisten Alexander Osang
Merkel bei ihrem ersten Interview seit Ende ihrer Amtszeit im Berliner Ensemble mit dem Journalisten Alexander OsangBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

In ihrem ersten Interview seit dem Ende ihrer Amtszeit hat Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel den russischen Angriff auf die Ukraine scharf verurteilt. „Dafür gibt es keine Entschuldigung“, sagte die Ex-Kanzlerin am Dienstagabend im Gespräch mit dem „Spiegel“-Journalisten Alexander Osang im Berliner Ensemble. Für den Überfall gebe es „keinerlei Rechtfertigung“. Es sei ein „objektiver Bruch all dessen, was uns in Europa friedlich zusammenleben lässt“. Sie nannte den Angriffskrieg auch „von Russlands Seite einen großen Fehler“. Tatsächlich sei es „nicht gelungen, den Kalten Krieg zu beenden“.

„Was ich mich natürlich gefragt habe, ist: Was hat man vielleicht versäumt?“, so Merkel. „Hätte man noch mehr tun können, um eine solche Tragik – ich halte diese Situation jetzt schon für eine große Tragik – hätte man das verhindern können? Und deshalb stellt man sich, stelle ich mir natürlich immer wieder diese Fragen.“

Putin benutze die Ukraine als „Geisel“. Sie sei aber „nicht blauäugig oder so“ gewesen, sondern habe gewarnt: „Ihr wisst, dass er Europa zerstören will. Er will die Europäische Union zerstören, weil er sie als Vorstufe zur Nato sieht.“

Die Minsk-Abkommen hätten der Ukraine Zeit verschafft

Auch zur Kritik an ihrer Unterstützung für die Minsk-Abkommen äußerte Merkel sich. Sie gab zu bedenken, dass man sich die Entscheidungen im Kontext der Zeit anschauen müsse. Das Abkommen von Minsk „habe der Ukraine sehr viel Zeit gegeben, sieben Jahre nämlich, um sich zu dem zu entwickeln, was sie heute ist“.

Immer wieder bezeugte die Ex-Kanzlerin ihre Hochachtung für die ukrainische Regierung , besonders den ukrainischen Präsidenten bewundere sie. „Der Mut und die Leidenschaft mit dem die Ukrainer für ihr Land kämpfen, ist so beeindruckend und auch Präsident Selenskyj, dass man davor nur die allergrößte Hochachtung haben kann.“ Für ihre Verhältnisse fast emotional ließ Merkel wissen: „Mein Herz hat immer für die Ukraine geschlagen.“

Der große Unterschied zwischen Merkel und Putin

Nachdem Osang einige Gemeinsamkeiten zwischen Merkel und Putin aufgezählt hatte – beide sprechen sowohl Russisch als auch Deutsch und sind im Kommunismus aufgewachsen –, kam Merkel zu den Unterschieden. „Putin hält die Demokratie für falsch ... ich halte sie für richtig“. Sie halte die Demokratie bei all ihren Fehlern für die „menschlichste Ordnung“.

Als sie Putin 2007 in Sotchi traf, hätten sie über den Zusammenbruch der Sowjetunion gesprochen, die Putin damals bereits hinter verschlossenen Türen „die größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte. Sie habe ihm erzählt, dass der Fall der Mauer „der Glücksumstand meines Lebens war, dass ich in die Freiheit konnte“.

Angela Merkel auf der Bühne des Berliner Ensemble
Angela Merkel auf der Bühne des Berliner EnsembleBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Frage von Ukraine-Botschafter Melnyk wird gestellt

Interviewer Osang gab auch die Frage des ukrainischen Botschafters Melnyk wider, die dieser ihm per SMS am Morgen zugeschickt hatte. Der suggerierte, dass Merkel mit einer „Appeasement-Politik“ gegenüber Russland den Angriff erst möglich gemacht hätte. Merkel verneinte das, zeigte aber Verständnis für die harte Form der Vorwürfe.

Melnyk hatte Merkel aufgefordert, nach Butscha zu reisen, als sie in Florenz Urlaub machte. „Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich kann es vielleicht ein bisschen erahnen, wie es einem Präsidenten der Ukraine geht“, sagte sie in diesem Kontext. Das sei ein riesiger Druck. Man müsse nachvollziehen, dass die Vertreter des Landes auch immer wieder die Aufmerksamkeit auf das Thema des Krieges lenken.

Doch auf die Frage, ob sie sich in der Russland- oder Ukraine-Politik für etwas entschuldigen müsse, sagte Merkel: „Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, deshalb falsch gewesen. Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldigen.“

Auch kurze, heitere Momente zur Bürgerin Merkel im Interview

Die Ex-Kanzlerin begründete auch, wieso sie sich nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt nicht zu tagesaktuellen Themen äußere. „Ich bin Bundeskanzlerin a. D.“, sagte Merkel. Sie sei keine „ganz normale Bürgerin“. Sie müsse noch vorsichtiger sein, zu aktuellen Dingen etwas zu sagen – ob nun das 9-Euro-Ticket gut sei oder nicht. Sie habe kein 9-Euro-Ticket, sagte sie auf Nachfrage noch.

Sie bekomme viele Einladungen, wolle aber nicht nur Termine abarbeiten. Wenn sie lese, sie mache nur noch „Wohlfühltermine“, dann sage sie: „Ja.“ 16 Jahre lang sei alles, was irgendwie von Relevanz gewesen sei, an ihrem Tisch vorbeigekommen. „Ich suche ja noch nach meinem Weg: ,Was ist eine Bundeskanzlerin a.D.?'“

Angela Merkel verabschiedet sich vom Publikum.
Angela Merkel verabschiedet sich vom Publikum.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Zum Abschluss: Merkel, die ostdeutsche Kanzlerin

Am Ende des Abends, nach gut zwei Stunden, kamen Merkel und Osang noch einmal auf den eigentlichen Anlass des Interviews zu sprechen. Eigentlich sollte es nämlich in der Veranstaltung unter dem Titel „Was also ist mein Land?“ um einen Band mit Reden der Bundeskanzlerin gehen. Der Aufbau-Verlag war auf die damalige Kanzlerin nach ihrer Rede anlässlich des Tags der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2021 zugekommen.

Da hatte sie erstmals über sich als Ostdeutsche gesprochen. Sie nannte die Rede „sehr persönlich“. Viele Menschen, die aus der ehemaligen DDR stammen, hatten Merkels Worte damals tief berührt. „Vielleicht konnte ich diese Rede auch nur halten, weil es eine meiner letzten Reden war – weil ich natürlich in dieser Rede auch ein Stück Verletzlichkeit gezeigt habe.“

Dann aber sprang Merkel in die ihr ganz eigene, humorvolle Pragmatik zurück und warf hinterher: „Also falls jemand Lust hat, ich sitz da noch und unterzeichne.“