Michael Roth zum Referendum in der Türkei: „Die Türkei braucht Deutschland und die Europäische Union“

Berlin - Michael Roth ist seit Dezember 2013 Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Der 46 Jahre alte SPD-Politiker stammt aus Hessen.

Die türkischen Wählerinnen und Wähler haben die Republik von Staatsgründer Atatürk abgewählt und sich für ein Präsidialsystem entschieden, das ganz auf Präsident Erdogan zugeschnitten ist. Eine Zeitenwende?

Das ist zweifellos eine Zeitenwende für die Türkei, aber auch ein Einschnitt für ganz Europa. Allerdings muss man feststellen, dass die Entscheidung denkbar knapp ausfiel. Die Türkei ist ein tief gespaltenes Land.

Müsste Erdogan nicht, um diese Spaltung zu überwinden, jetzt als Gewinner des Referendums Größe zeigen und das Land versöhnen?

Das müsste er. Eine Verfassung ist ja nicht dazu da, um ein Land und sein Volk zu spalten, sondern um es zu vereinen. Es zeichnet Staatsmänner aus, dass sie sich so einer Bewährungsprobe verantwortungsvoll stellen. Die Türkei braucht dringend einen Versöhnungsprozess. Es sind im Wahlkampf tiefe Wunden gerissen worden. Daraus muss man jetzt die richtigen Schlüsse ziehen. Und das kann nur heißen: Das Zusammenleben der unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen in der Türkei muss spürbar verbessert werden.

Sollte Erdogan also besser darauf verzichten, seine neuen Kompetenzen vollständig auszunutzen?

Die Mehrheit war denkbar knapp. Gerade in Großstädten wie Istanbul zeigte sich: Erdogans polarisierende Kampagne konnte nicht überzeugen. Deswegen ist es jetzt so wichtig, dass die Türkei ihre Verpflichtungen erfüllt, die sie als Europaratsmitglied und als EU-Beitrittskandidat eingegangen ist. Die türkische Führung hat eine demokratische und eine rechtsstaatliche Verpflichtung, die innergesellschaftliche Entfremdung zu überwinden. Das ist vor allem eine Verantwortung derjenigen, die für sich in Anspruch nehmen, dieses Referendum gewonnen zu haben.

Die Bundesregierung muss die Beziehungen zur Türkei nach diesem Referendum neu bewerten. Was muss als Erstes kommen?

Ich bin erst einmal sehr froh, dass dieser Wahlkampf vorbei ist. Ich kann nur hoffen, dass wir jetzt wieder zu einem anständigen Umgang miteinander finden. Die Türkei braucht Deutschland und die Europäische Union, und wir brauchen auch eine stabile Türkei, die der Demokratie verpflichtet ist. In Deutschland leben drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Da muss jetzt ganz dringend verbal abgerüstet werden. Wir müssen wieder mehr miteinander und weniger übereinander reden. Da gibt es eine Menge zu tun. Wir sind dazu bereit, aber ich hoffe, dass das auch für die Partner in der Türkei gilt.

Klingt nicht gerade optimistisch. Aus der Union, der Linkspartei und der FDP kommen schon die ersten Forderungen, die EU-Beitrittsverhandlungen zu beenden. Wäre das nicht die richtige Reaktion auf das Referendum?

Langsam, langsam. Ein großer Teil der Türkinnen und Türken ist weiterhin Europa zugewandt. Ich möchte zum jetzigen Zeitpunkt keine Türen zuschlagen, ganz im Gegenteil. Meine Solidarität gilt den Menschen in der Türkei, die sich zu unseren gemeinsamen europäischen Werten bekennen und die das offenkundig bei dem Referendum auch zum Ausdruck gebracht haben.