Migrationsforscher: EU droht Glaubwürdigkeit zu verlieren
Gerald Knaus fordert, eine humane und zugleich konsequente Lösung für die Menschen an der Grenze zu Polen zu finden. Deutschland könne 4000 Menschen aufnehmen.

Der Migrationsexperte Gerald Knaus sieht die EU an einer historischen Wegmarke. Der Gründer der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) ist überzeugt, dass die europäische Politik nicht zulassen dürfe, dass die zwischen Polen und Belarus im Wald ausharrenden Migranten ihrem Schicksal überlassen oder gar in einen gewaltsamen Konflikt verwickelt werden. Knaus sagte der Berliner Zeitung: „Die Menschen harren an der polnischen Grenze unter unzumutbaren Bedingungen aus. Es ist eiskalt, die Verpflegung und eine medizinische Versorgung sind nicht gegeben. Die Menschen sitzen – viele mit ihren Kindern – im Wald und wurden jetzt viele Wochen schon von der belarussischen Polizei daran gehindert, zurück in Richtung von Minsk zu gehen. Polen praktiziert illegale Push-Backs, schickt also Menschen direkt in eine unmittelbare körperliche Gefahr zurück. Wenn die EU an dieser Politik festhält, stehen wir an einer neuen Zeitrechnung bei den Menschenrechten in Europa: Die Genfer Flüchtlingskonvention wäre dann faktisch Geschichte.“
Mit einem solchen Verhalten würde die EU auch jede Glaubwürdigkeit verlieren, in anderen Teilen der Welt Verletzungen der Flüchtlingskonvention zu kritisieren. Knaus: „Es muss der EU gelingen, gleichzeitig einen humanen und einen konsequenten Ansatz zu finden.“ Knaus sagt, dass der belarussische Präsident Lukaschenko die Migranten bewusst als Antwort auf die EU-Sanktionen ins Land geholt habe, um sie nun gegen Europa als Druckmittel einzusetzen. Dies habe Lukaschenko bei einer Rede in Brest offiziell angekündigt. Die Migranten seien in der „falschen Hoffnung nach Belarus gelockt worden, dass es von hier aus eine risikofreie Reise nach Deutschland geben werde“. Lukaschenko habe darauf gesetzt, dass die EU auf diese Taktik keine Antwort haben werde und am Ende mit ihm verhandeln müsse. Tatsächlich seien die Migranten wie die EU so in eine „teuflische Falle“ geraten.
Verschärfung der Sanktionen
Für Deutschland stellt die Gruppe der Migranten von der Zahl her eigentlich kein Problem dar. Knaus: „Ich bin mir sicher, dass wir in Deutschland eine Mehrheit in der Politik und bei der Bevölkerung hätten, ein paar Tausend Geflüchtete in Not aufzunehmen, würde es bei dieser Zahl blieben. Doch heute wäre eine Bundesregierung, die so etwas fordern würde mit Widerstand in vielen anderen EU-Staaten, auch Polen, konfrontiert. Wenn dann weiterhin mehr Menschen kämen, wäre der Vorwurf wie schon 2015 bei vielen: Dieses Problem hat uns Deutschland eingebrockt.“ Als Ausweg müsse ein differenziertes Vorgehen erfolgen, welches der EU aber wegen interner Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlicher Politikansätze schwerfalle.
Es seien drei Dinge unerlässlich, so Knaus, um nicht von Lukaschenko abhängig zu sein: „Die Wirtschaftssanktionen gegen Belarus und insbesondere gegen Mitglieder des Lukaschenko-Regimes müssen verschärft werden. An Polen sollte eine klare Botschaft gehen, dass es keine Rückendeckung für die illegalen Push-Backs gibt. Und schließlich müssen wir mit einem sicheren, demokratischen Drittstaat in Osteuropa verhandeln, der sich bereit erklärt, Geflüchtete nach einem bestimmten Stichtag aufzunehmen.“ Die etwa 4000 Migranten, die sich aktuell in den Wäldern an der polnischen Grenze aufhalten, könnten demnach von Deutschland übernommen werden. Dazu sollte man sich parallel darum bemühen, dass nach einem Stichtag eine dann kleine Zahl von Menschen, die es trotz der Reduzierung der Flüge weiter nach Belarus schafft, ihr Verfahren in einem Land wie der Ukraine oder Moldau haben.
Das würde die Zahl die nach Belarus ginge wohl sofort reduzieren. Knaus: „Sonst liefe die EU Gefahr, dass die Botschaft in die Welt lautet, jedermann kann über Belarus nach Deutschland kommen.“ Dies ginge aber nur, wenn diese Länder, wie die Türkei 2016, ein nationales Eigeninteresse sehen und von der EU Hilfe auch in anderen Bereichen erhielten. Bei der Türkei waren es sechs Milliarden Euro für fünf Jahre für Flüchtlinge im Land.
Russische Unterstützung
Sanktionen gegen Belarus allein würden nach der Einschätzung von Knaus nicht ausreichen, weil Russland die Lücke schließen könnte. Knaus: „Die Sanktionen treffen die Regierung in Minsk solange nicht, solange die Ausfälle mit russischer Unterstützung ausgeglichen werden.“
Knaus ist überzeugt, dass die Lage an der Grenze zwischen Belarus und Polen kritisch ist: „Die Polen wollen einen Grenzübertritt um jeden Preis verhindern, Belarus manipuliert diese Menschen und das Regime hat keine Skrupel. Es besteht weiterhin die Gefahr der Eskalation. Es wäre schrecklich, wenn unschuldige Menschen zwischen die Fronten gerieten.“ Aber auch Verhandlungen und Konzessionen an Lukaschenko wären ein zu hoher Preis. Es sei weiterhin sehr schwierig, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Gerald Knaus: „Es gibt einen Grenzstreifen, wo von polnischer Seite niemand hindarf – weder Journalisten noch Aktivisten. Die Bilder von belarussischer Seite sind Propaganda. Also wissen wir im Grund nicht, was mit den Geflüchteten geschieht. Dieser Zustand ist unhaltbar, gerade auch im Hinblick auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in der EU.“