Millionen Freunde sollt ihr sein: Leben in deutsch-sowjetischer Freundschaft

Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft sollte den DDR-Deutschen nach NS-Zeit und Krieg den Anti-Sowjetismus austreiben. Ist ihr das gelungen?

Nicht ganz auf Augenhöhe: Ordensgeschmückte Musterproleten aus der DDR und der UdSSR auf einem Propagandaplakat der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft aus den 1950er-Jahren.
Nicht ganz auf Augenhöhe: Ordensgeschmückte Musterproleten aus der DDR und der UdSSR auf einem Propagandaplakat der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft aus den 1950er-Jahren.Wikipedia/CC BY-SA 4.0/Rakoon

Erdrutschartig hat sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Blick auf die Nachbarschaft im Osten verändert. Wer freundschaftliche Gefühle für Russland hegte, dem schwand der Boden unter den Füßen. Jetzt tauchen allenthalben Neu-Experten auf, die bislang ihre weichen Treter eher selten auf den harten Boden im Osten setzten. In der DDR gehörte die UdSSR von Kindesbeinen an zum Leben. Das war die Folge der Kriegsergebnisse von 1945.

Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) war wohl die merkwürdigste der vielen Massenorganisationen, denen DDR-Bürger angehörten. Sechs Millionen Menschen (von rund 17 Millionen Einwohnern) waren per Mitgliederschaft mit der Sowjetunion befreundet. Diese Organisation war also überall präsent, jedoch nicht im Alltag. Das lag nicht so sehr an ihrem im Namen beschriebenen Daseinsgrund. Vielmehr hatte sich die Organisation in politischer Formelhaftigkeit festgefahren, während ihre populären kulturellen Angebote vor allem dann geschätzt wurden, wenn sie ohne politisches Brimborium auskamen.

Die reine Zahl der von der DSF organisierten Veranstaltungen beeindruckt: 1970 wurden DDR-weit 394.000 Aktivitäten abgerechnet, 1988 waren es 1.161.262 – viel Kultur und Sport darunter, oft nahm das Publikum die DSF als Urheberin gar nicht war.

Schwieriges Verhältnis zum großen Bruder

Zudem war das Verhältnis zur Sowjetunion, dem großen Bruder, immer schwierig. Selbst wer in der DDR die vielfältige Kultur der sehr unterschiedlichen Sowjetrepubliken schätzte, Musik, Filme und Literatur, Folklore und die Herzlichkeit der Menschen, und sich der Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen gegen die Völker der Sowjetunion gestellt hatte, konnte sich gegen die staatliche Nötigung zu ritualisierten Freundschaftsbekundungen sträuben. Auch die Machtallüren der Moskauer Führung gegen den abhängigen Zwergstaat DDR ärgerten. Und selbstverständlich gärte auch unter den DDRlern die alte Verachtung der Slawen, die alle östlich der Oder Lebenden zu den nur wenig kultivierten Arbeitsvölkern zählten.

Als dann der Riese im Osten mit Beginn der Reformpolitik Michail Gorbatschows von 1984 an interessant wurde, fror die offizielle Freundschaft ein. Nun distanzierte sich ein maßgeblicher Teil der DDR-Spitze von Glasnost und Perestroika. Die DSF verzeichnete in jener Zeit Zuwächse. Jetzt wollten Leute die sowjetische Zeitschrift Sputnik und ihre zunehmend gesellschaftskritischen Berichte lesen – bis sie 1988 „von der Postzeitungsliste gestrichen“, also verboten wurde.

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Siegen lernen
Motto: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, lautete die von der DSF propagierte Losung. Sie war nicht vorrangig militärisch gemeint, sondern auf die Wirtschaftsleistung gerichtet. Sowjetische Produktionsmethoden sollten als Vorbild dienen, zum Beispiel die Modernisierung der Landwirtschaft und der Steigerung der Arbeitsproduktivität. Anfang der 1950er-Jahre warb eine Plakatserie der DSF mit der Losung „Von den Sowjetmenschen lernen, heißt siegen lernen“.

Kurswechsel: Das Motto galt für Glasnost und Perestroika nicht mehr. Kurt Hager, mächtiges Mitglied des SED-Politbüros, sagte 1987 zu den Reformen des großen Bruders, man fühle sich doch nicht verpflichtet, die Wände der eigenen Wohnung neu zu tapezieren, bloß weil das der Nachbar tue.

Gigantische Größe und Desinteresse an der DSF gingen zusammen: Alle waren dabei, aber kaum jemandem bedeutete dies viel. Die zweitgrößte Massenorganisation des Landes wurde nur übertroffen vom FDGB, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, mit 9,6 Millionen Mitgliedern.

Eine kleine Umfrage im Bekanntenkreis (alle über 60 Jahre) zu ihren DSF-Erinnerungen ergab nahezu gleichlautend: Ja, man war Mitglied. Ja, man klebte die kleinen 10-Pfennig-Beitragsmarken ins blaue Heft. Aber sonst? Schulterzucken. Viele hatten im Lauf der Schulzeit einen Brieffreund oder eine Brieffreundin in der SU. Meine hieß Natascha, lebte in der Industriestadt Omsk und trug auf einem Foto eine weiße Schleife im Haar.

In Omsk gab es Chemieindustrie wie in meiner Heimatstadt Bitterfeld, deshalb hatten DSF und Russischlehrerin wohl diesen Kontakt vermittelt. Sie legte ihren Briefen bunte Bonbonpapiere bei, und ich schickte Stammbuchbilder mit niedlichen Figuren. Was zwölfjährige Mädchen so mochten und zur Verfügung hatten. Es wurde nichts Ernstes, und meinem Russisch hat es wenig geholfen.

100 Prozent DSF-Mitgliedschaft erwünscht

Einmal im Jahr kamen sowjetische Pioniere in unsere Bitterfelder Schule, es waren Kinder von Offizieren der sowjetischen Garnison Kochstedt bei Dessau. Sie durften nichts von zu Hause erzählen. Es wurde viel geschwiegen über die Kuchenberge hinweg. Die Chance, in ein internationales Ferienlager in die Sowjetunion zu reisen, war winzig, dagegen waren die Gruppenreisen für Erwachsene als Möglichkeit, mal etwas anderes zu sehen, hoch begehrt.

Die Betriebe erwarteten, dass alle Kolleginnen und Kollegen der DSF angehörten, wer nicht wollte, musste „Gespräche“ über sich ergehen lassen. Beharrliche Ablehnung hatte indes keine persönlichen Folgen, doch das Arbeitskollektiv spürte Nachteile, wenn die DSF-Quote nicht 100 Prozent betrug – es konnte im Wettbewerb nicht den Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ erringen.

Insgesamt ein erstaunlicher Aufwand. Er spricht für die Sorge, alte Ressentiments und der Groll über die Niederlage könnten in der Gesellschaft zum Ausbruch kommen. Zwölf Jahre lang waren die Deutschen dem Nationalsozialismus gefolgt. Die Annahme, dass die Besetzten ihre Besatzer nicht mochten, lag nahe. Nun war Umerziehung angesagt. Die Militäradministration setzte auf eine Doppelstrategie von Repression und Kultur.

Speziallager für „feindliche Elemente“

Mutmaßlich „feindliche Elemente“, also ehemalige NS-Frauen und -Männer, Spione oder irgendwie verdächtige oder für gefährlich gehaltene Menschen, sperrte man in sogenannte Speziallager. Zehn gab es insgesamt in der „Zone“, so in Berlin-Hohenschönhausen, Sachsenhausen oder Buchenwald. Die Lager, oft ehemalige KZ, bestanden länger als vergleichbare Einrichtungen der West-Alliierten, ein größerer Personenkreis wurde interniert.

Ein Sowjetsoldat posiert mit FDJ-Mitgliedern und Pionieren während des Deutsch-Sowjetischen Jugendfestivals vor dem Zwinger in Dresden, aufgenommen im Oktober 1970.
Ein Sowjetsoldat posiert mit FDJ-Mitgliedern und Pionieren während des Deutsch-Sowjetischen Jugendfestivals vor dem Zwinger in Dresden, aufgenommen im Oktober 1970.dpa-Zentralbild/Wilfried Glienke

Auf der anderen Seite tat die Sowjetverwaltung alles, um den deutschen Kulturbetrieb wieder in Gang zu setzen: Theater öffneten wieder, Konzerte fanden statt. Legendär wurden die Auftritte des Alexandrow-Ensembles der Roten Armee. Um die Eintrittskarten rissen sich die Leute; ein Konzert am 18. August 1948 vor den Trümmern auf dem Gendarmenmarkt begeisterte Tausende. Sie bejubelten die russischen Volkslieder, vor allem „Katjuscha“, aber das von dem hinreißenden Sänger Viktor Nikitin vorgetragene deutsche Lied „Im schönsten Wiesengrunde“ löste Jubel wie Tränenbäche aus. Wenn sich die Sowjets derart vor der deutschen Kultur und Heimat verneigten, konnten sie keine schlechten Absichten hegen. Ein Idealfall von „Eroberung der Herzen und Hirne“. Und wer hatte das organisiert? Die Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion.

Wissen gegen Falschwissen

So hieß die Vorläuferin der DSF. Die Berliner Zeitung informierte lapidar am 26. Juni 1947 in einer Kurzmeldung, in Weimar hätten Mitglieder des früheren Deutsch-Russischen Clubs eine Gesellschaft dieses Namens gegründet. Ebenso in Schwerin. Am 30. Juni gründete sich die landesweite Gesellschaft. Vorsitzender wurde der Historiker Jürgen Kuczynski, Kommunist aus jüdischer Familie, der als US-Oberstleutnant aus dem Exil zurückgekehrt war.

Die Anregung zur Gründung soll vom Leiter der Propaganda- und Informationsabteilung der sowjetischen Militäradministration, dem Gesellschaftswissenschaftler und Obersten Sergej Tjulpanow, ausgegangen sein. Der Vorsitzende des Berliner Landesverbandes, der Volkskundler Professor Wolfgang Steinitz, formulierte in einer Rede die Aufgaben: Man müsse die Unkenntnis und das Falschwissen über die Verhältnisse in der Sowjetunion überwinden.

Diese Unkenntnis hätte zu arroganter Überheblichkeit und offener Feindseligkeit allem Russischen und Sowjetischen gegenüber geführt. Der antisowjetische Affekt, den Thomas Mann als die Torheit der Epoche bezeichnet hatte, müsse revidiert werden. Im Dezember erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift Die neue Gesellschaft. Auch im Westen, in München, Hamburg etc., gründeten sich Ortsverbände.

Neuer Name, neuer Stil

Am 2. Juni 1949 änderte sich der Namen: Fortan trat die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft auf. Ein Leitartikel in der Berliner Zeitung erhellt am 3. November die Hintergründe: Der Name DSF hätte anderthalb Jahre zuvor als Anmaßung erscheinen können, das deutsche Volk hätte nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion keine „Worte zutraulicher Wärme“ erwarten können, „die Voraussetzung für das Wort Freundschaft mit der Sowjetunion musste man in Deutschland erst erarbeiten.“

Nun klangen die Berichte schon nach großer Politik: Jetzt gingen die Intentionen über das interessierte Studium der Kultur hinaus – eine Haltung, ein Bekenntnis zur Sowjetunion waren gefragt. Abschließend betonte der Leitartikler das große Interesse des deutschen Volkes an der Wiederherstellung seiner Einheit, dem Abschluss eines Friedensvertrages und dem Abzug der Besatzungsmächte: „Indem wir die sowjetische Politik unterstützen, kämpfen wir für unsere eigene nationale Sache.“

Aufstieg und jähes Ende

Am 1. Juni 1950 übergaben die Sowjets das attraktive Palais am Festungsgraben der DSF zur Nutzung. Am 15. Mai 1950 bejubelte die Gesellschaft den „großherzigen Beschluss der Sowjetregierung“, die deutschen Reparationsleistungen um die Hälfte herabzusetzen.

1970 war die Mitgliederzahl auf 3,5 Millionen gestiegen, 1988 die Höchstzahl von 6,4 Millionen erreicht. Mit der Wende kam der Einbruch: Am 29. März 1990 waren noch 300.000 Mitglieder übrig. Der neue Vorsitzende, Pfarrer Cyrill Pech, beschwor die Bedeutung der Orientierung nach Osten in der politischen, religiösen und kulturellen Dimension. Am 28. März 1992 gab sich der schwindende Rest den neuen Namen Brücken nach dem Osten – Föderation von Gesellschaften für Völkerverständigung e. V. Am 31. Dezember 1992 löste sich auch diese auf, ein Teil des Vermögens ging in die Stiftung West-Östliche Begegnungen ein, die bis heute aktiv ist.

Ihre letzte große Aktion organisierte die DSF am Abend des 3. Januar 1990 am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Rechtsradikale hatten das Ehrenmal mit antisowjetischen Sprüchen geschändet. Dem Aufruf zur „Kampfdemonstration gegen Neofaschismus“ folgten in Dunkelheit und Kälte 250.000 Menschen. Es war die größte Demonstration nach der Herbst-Revolution. Gregor Gysi beschwor als neuer Vorsitzender der SED-PDS die „Gefahr von rechts“, andere Redner sahen eine „faschistische Hydra“ und „neonazistische Provokateure“ am Werk. Um diese zu bannen, wurde die Einrichtung eines Amtes für Nationale Sicherheit gefordert.

Realität wurde aber diese Forderung der Schmierer: „Sprengt das letzte Völkergefängnis, sprengt die UdSSR!“ Die Sowjetunion löste sich am 26. Dezember 1991 auf. Als russischer Präsident sollte Wladimir Putin das als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen. Diese zu revidieren, betrachtet er als seine historische Mission.