Mindestens 800.000 Tote: Deutsche Wehrmacht hält Blockade in Leningrad für fast 900 Tage

Die Lage in der Stadt verschlechterte sich rasant. Die Fabrikarbeiterin Anna Jaschina sagte zu ihrem ältesten Sohn Anatoli, er solle Katzen fangen gehen. „Ja, ja, mache ich“, sagte er. Aber als der Zehnjährige sich dann auf die Jagd machen wollte, gab es keine Katzen mehr. Schon im November 1941 waren alle Katzen der Stadt aufgegessen. 1942 brach deshalb eine Rattenplage aus, Seuchen drohten, man begann, Katzen aus dem russischen Hinterland heranzuschaffen. Im westsibirischen Tjumen steht bis heute ein Denkmal für die 5000 sibirischen Katzen, die der von Ratten und Feinden bedrängten Stadt zur Hilfe kamen.

Am 27. Januar 1944 endete vor 75 Jahren die Blockade von Leningrad. Am 8. September 1941 hatte die Wehrmacht den Ladogasee erreicht und so die Landverbindung des heutigen Sankt Petersburg zum übrigen Russland abgeschnitten. Es blieb nur der See, über dessen Eis man im Winter Lastwagen schicken konnte. Die Deutschen machten mehrere Versuche, die damals größte russische Stadt zu erobern, entschieden dann, sie auszuhungern. Die längste, opferreichste und verbrecherischste Schlacht des Zweiten Weltkriegs dauerte fast 900 Tage.

Die Leiden der Stadt sind kaum in Worten auszudrücken, auch nicht in Zahlen. Das russische Wikipedia nennt 650.000 Zivilopfer, das deutsche 1,1 Millionen. „Die russische Zahl beruht auf den offiziellen Angaben der Sowjetunion beim Nürnberger Prozess. Die Behörden beharrten auf dieser Zahl, weil sie die Ergebnisse des Prozesses auf keinen Fall infrage stellen wollten“, sagt Nikita Lomagin, Historiker und Enkel der Fabrikarbeiterin Anna Jaschina.

Ein paar Gramm Brot, etwas Kohl

In den Sechzigerjahren dann hätten zwei Sowjethistoriker die Bewohnerlisten der Leningrader Häuser, die Statistiken des städtischen Gesundheitsamts und der Evakuierungspunkte ausgewertet. „Demnach sind 800.000 Leningrader verhungert, mindestens“, sagt Lomagin. Zehntausende Menschen, die während oder nach der Evakuierung starben, wurden dabei nicht mitgezählt. Nikita Lomagin, Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, gilt weltweit als einer der besten Kenner der Blockade. Seine Großmutter habe ihm viele Antworten geben können, die in keinem Archiv zu finden waren, sagt der Historiker.

Anna Jaschina erzählte nur ungern. 1989 jedoch bekam sie mit, dass ihr Enkel, Jahrgang 1964, an einer Doktorarbeit schrieb, in der er wie alle Sowjethistoriker Exzesse wie etwa Kannibalismus im belagerten Leningrad bestritt. Sie schlug ihm vor zu reden. Anna Jaschinas Mann kämpfte als Soldat an der Kesselfront und fiel. Die damals 30-jährige Arbeiterin blieb mit drei Kindern und ihrer Schwiegermutter in der hungernden Stadt zurück. „Zuerst starben ältere Männer, dann Säuglinge“, sagt Lomagin, der Enkel. Die Säuglinge starben, weil ihre Mütter keine Milch hatten, um sie zu stillen, die Pensionäre mussten mit einer Brotration von 125 Gramm am Tag auskommen. Arbeiter erhielten 250 Gramm, Kinder bis 12 Jahre 200 Gramm. Dazu gab es ein bisschen Margarine, etwas Kohl oder ein paar Eier im Monat.

„Die Menschen bekamen ein Viertel, maximal ein Drittel der Kalorienmenge, die zum Überleben notwendig ist.“ Die Lebensmittelkarte eines Arbeiters wurde zum strategischen Ziel im Überlebenskampf. Die geringsten Chancen hatten Nicht-Werktätige im Stadtzentrum, also die Leningrader Intelligenzia. Anna Jaschina und die Ihren hatten mehr Glück: Mit ihrer Arbeiterkarte bekam Jaschina auch Tabak, den sie auf dem Schwarzmarkt bei besser versorgten Rotarmisten gegen Brot tauschte. Sie und ihre Familie wohnten in einem Fabrikwohnheim in einem zweistöckigen Holzhaus auf der Wassilewski-Insel. 

„Die Familie spendete seelischen Komfort"

Dort, am Stadtrand, war es leichter, Brennholz zu beschaffen oder nicht abgeerntete Kartoffeln auf den Sowchosfeldern zu finden. Und weil Anna Jaschina mit den Kindern im Sommer eigentlich in ihr Heimatdorf im Kalininer Gebiet fahren wollte und weil es dort im Juni noch nichts zu ernten gab, hatte sie 60 Kilo Proviant gesammelt, die waren jetzt die eiserne Reserve. Als Ende Dezember dann alles verzehrt war, ging Anna zu Verwandten in eine Siedlung am rechten Newa-Ufer, die sich sogar Hühner hielten. Sie gaben Anna ein Kilo Graupen und ein Literglas Kraut, die sie 18 Kilometer durch die Leningrader Schneewehen nach Hause trug. „Die Familie wurde zur rettenden Organisationsform. Sie verteilte die knappen Reserven und die Arbeit. Meine Großmutter ging in die Fabrik, ihre Schwiegermutter stand mit den Lebensmittelkarten Schlange“, erzählt Lomagin.

„Die Familie spendete seelischen Komfort, die Kinder spornten den eigenen Überlebenswillen an.“ In der Not verzehrten die Leningrader auch gekochte Ledergürtel, Möbelleim, Hunde oder Krähen. Laut NKWD wurden etwa 2000 Leichen gegessen. Anna Jaschina ließ ihre Tochter niemals allein ins Lebensmittelgeschäft gehen, aus Angst, sie könnte verschleppt werden – laut Lomagin töteten Kannibalen mehrere Hundert Kinder. Von den 500.000 Leningrader Kindern unter zwölf wurde etwa die Hälfte in Sicherheit gebracht, von den übrigen lebten Anfang 1944 nur noch 80.000. In der Stadt fielen hungernde Menschen auf offener Straße um. Draußen, auf der anderen Seite der Front, verfassten deutsche Landser Heimatbriefe. „Du wolltest noch wissen, wie wir verpflegt werden“, schreibt ein Infanterieleutnant seiner besorgten Frau.

„Jeden Tag 50 Gramm Butter, 120 Gramm Wurst, zum Mittagessen 120 Gramm Fleisch, Makkaroni, Erbsen...“ Dazu gäbe es Bohnenkaffee, Tee, Alkohol, Bonbons, Schokoladen, Zigaretten, eingemachtes Obst und andere „Leckerbissen“. „Der Iwan“ aber sei „dezimiert“, in Leningrad herrschten Seuchen und Hunger. „Nur, die Schweinehunde wollen nicht kapitulieren.“ Bis die Stadt falle, werde wohl die Hälfte der Stadt verhungern. Die deutschen Frontsoldaten hätten gewusst, was sie anrichteten, sagt Nikita Lomagin. Und er liest den einschlägigen Befehl eines Divisionskommandeurs von 1941 vor: Man werde die Festung Leningrad durch Aushungern zur Kapitulation zwingen.

Der Umgang mit der Vergangenheit

„Deshalb befehle ich, dass kein einziger russischer Soldat, kein Zivilist, ob Mann, Frau oder Kind unsere Front passieren darf.“ Sie seien durch Feuer auf Distanz zu halten und, falls sie versuchten, durchzubrechen, zu erschießen. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Wilhelm Ritter von Leeb, der die Nazis nicht mochte, bat im Januar 1942 um seine Ablösung. Aber vorher hatte er sich in seinem Kriegstagebuch wiederholt beschwert, man käme nicht nah genug an die Stadt heran, um sie massiv mit Artillerie beschießen zu können. Die Blockade gab es auch deshalb, weil die deutschen Kräfte für einen Sturmangriff zu schwach waren. Auf sowjetischer Seite waren die Reserven ebenfalls knapp.

Fast 900 Tage herrschte an der Leningrader Front ein fatales Kräftegleichgewicht, mehrere sowjetische Entsatzoffensiven scheiterten blutig, auch wenn es im Januar 1943 gelang, einen schmalen, unter Beschuss liegenden Eisenbahn-Korridor freizukämpfen. Der Historiker Lomagin schätzt die Verluste der Roten Armee in den Kämpfen um Leningrad auf etwa 700.000 Mann, Vermisste und Gefangene nicht mitgezählt. „Allein die Sprengung des Belagerungsrings im Januar 1944 hat 300.000 Tote und Verletzte gefordert.“ Wie die meisten Petersburger hat der Historiker den Deutschen verziehen. „Es gab ein anderes Deutschland vor Hitler und Gott sei Dank auch nach Hitler.“ Für ihn sei der Umgang der Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit wichtiger. „Wir haben in der DDR sehr viel Reue erlebt. Es verdient auch Respekt, wie deutsche Historiker die Verbrechen der Wehrmacht offenlegen.“ Und als es in den Neunzigerjahren in Petersburg wirtschaftliche Probleme gab, seien die Deutschen die Ersten gewesen, die geholfen hätten. „Aber vor allem haben wir die Deutschen besiegt.

Im Gegensatz zu anderen Opfern der deutschen Aggression wie den Niederlanden oder Dänemark konnten wir unsere Ehre verteidigen.“ Anna Jaschina und die Ihren verließen die Stadt Ende März 1942, mit einem der letzten Transporte über das tauende Eis des Ladogasees. Eine Woche später zerstörte eine Bombe ihr Holzhaus in Leningrad. Da hatten sie den See schon überquert. Während der Zugfahrt starb die Schwiegermutter an Herzversagen. Zwei Wochen später erlag der vierjährige Juri, Annas jüngster Sohn, einer Lungenentzündung. „Ich denke, auch sie waren Opfer der Blockade“, sagt Lomagin. Wenn eine Leningrader Familie damals Glück hatte, holte der Tod nur die Hälfte von ihr.