Wie ein bedrängter Hund: Was vom heißen Herbst übrig blieb

Progressives Zentrum und Bertelsmann-Stiftung legen eine Analyse der Montagsdemos in Chemnitz und Gera vor. Mit überraschenden Ergebnissen.

Montagsdemo in Chemnitz Ende Februar
Montagsdemo in Chemnitz Ende FebruarHärtelpress/imago

Rückblickend sieht man: Es hat keinen heißen Herbst gegeben und auch keine Volksaufstände, wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) einst prophezeite. Durchaus aber ausdauernden Protest gegen die Regierungspolitik. Vor allem im Osten Deutschlands und dort besonders in kleineren und mittleren Städten. Es sind die Montagsdemos, zu denen sich seit Jahren Menschen zusammenfinden.

Mittlerweile haben sich viele in der Politik, den Medien und der Wissenschaft mit diesem Phänomen beschäftigt. Aber dunkle Flecken gibt es noch immer.

Die linksliberale Denkfabrik Progressives Zentrum und die Bertelsmann-Stiftung haben jetzt in einer qualitativen Studie mit dem Titel „Mir reicht’s Bürger“ zusammengetragen, was Teilnehmer selbst als Motive angeben. Befragt wurden rund 200 Menschen – ausschließlich Mitlaufende, keine Veranstalter – von November 2022 bis Januar 2023 an insgesamt sechs Montagen. Am Mittwoch stellten die Studienmacher ihre Ergebnisse in Berlin vor.

Manches davon kennt man schon. Dass sich Teilnehmer beispielsweise in eine rechte Ecke gedrängt fühlen, von der sie sich aber abgrenzen. Und dass es in Städten wie Chemnitz und Gera kaum Gegenproteste gibt. Anderes überrascht dann aber doch.

Zum Beispiel die Beweggründe, auf die Straße zu gehen. Kaum einer der Befragten nennt die steigenden Energiekosten oder die Inflation als wichtigsten Grund. Stattdessen gibt es vor allem Kritik am deutschen Umgang mit dem Ukraine-Krieg, Unzufriedenheit mit der Corona-Politik und eine allgemeine Kritik an der Regierung. Ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber den politischen Akteurinnen und Akteuren, Antiamerikanismus und Nationalismus summieren die Studienmacher.

Viele würden die USA als Kriegstreiber sehen, so Paulina Fröhlich vom Zentrum. „Ein Hund, der bedrängt wird, beißt eben auch irgendwann“, wird in der Studie von einem Teilnehmer überliefert. Dahinter verberge sich aber nicht unbedingt Russlandliebe, sondern Kriegsangst.

Ein anderes Zitat im Zusammenhang zur Regierungspolitik lautet: „Momentan läuft etwas extrem schief. Ich bin ehemaliger DDR-Bürger. Ich habe dafür ein Gespür.“ Die eigene Biografie und die Verunsicherung durch Transformationserfahrungen nach der Wende, Abstiegsängste und das Gefühl, nicht gehört zu werden, treiben der Studie zufolge Menschen auf die Straße und führen auch zu einer Identifikation mit Russland.

Erstaunlich ist das Politikverständnis. Das Scheitern der Impfpflicht werde durch die Proteste als Erfolg der Straße gesehen, so Fröhlich. Es werde direkte Demokratie gewollt. Allerdings verstünden viele darunter, dass es eine Art Volkswille gebe, den Regierende dann nur noch exekutieren.

Aufklärung und Werben für liberale Demokratie

Paulina Fröhlich schlägt vor, der Mobilisierungskraft vor allem Aufklärung und Werben für ein liberales Demokratieverständnis entgegenzusetzen. Vor allem weil Zusammenhänge überhaupt nicht wahrgenommen würden. SPD und FDP kämen in den Äußerungen nicht vor. Entlastende Maßnahmen wie der Doppel-Wumms des Kanzlers würden nicht erwähnt. Enorme Kritik an den Grünen falle keineswegs mit dem Ablehnen ihrer Ziele zusammen. Die Studie zeige, dass die Anti-System-Haltung nicht inhaltlich motiviert sei, sagen ihre Macher.

Der sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) lobt mit Blick auf die Studienergebnisse den abwägenden Kurs der Bundesregierung bei vielen Themen. „Es ist gut, bei zentralen und die Gesellschaft aufwühlenden Themen keine Alternativlosigkeit vorzuschreiben, sondern die Komplexität der Vorhaben zu betonen, egal ob beim Thema des Angriffskrieges Putins auf die Ukraine und Waffenlieferungen oder auch bei den Themen Klimaschutz und Zuwanderung“, sagt Dulig. Er verspricht sich viel davon, dass das „Zukunftszentrum für die Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ in Halle gebaut wird. Es sei zentral, dass die Gefühle des Niedergangs und der Brüchigkeit von Wohlstand dort eine Rolle spielten, sagt der Minister.