Nach Brexit: Martin Roth verlässt Londoner Kunstinstitution

London - Martin Roth zu interviewen ist schon unter normalen Bedingungen ebenso amüsant wie schwierig. Der überzeugte Europäer aus Stuttgarter im Chefsessel des weltberühmten Victoria&Albert- Museums (V&A) hat viel zu große Lust am diskursiven Gespräch, gelegentlich auch Selbstgespräch, als dass er sich dem strengen Frage-und-Antwort-Spiel unterziehen würde. Da werden Dresdener Erfahrungen verglichen, gemeinsame Verbindungen ins Niederbayerische erörtert, frühe Theaterbesuche beschrieben.

Das alles dient nicht der Vermeidung unangenehmer Gesprächsthemen, im Gegenteil. Anders als manch jovialer Politiker kommt der Kulturmanager Roth am Ende stets wieder zur Sache.

An diesem Freitagvormittag geht es um einen besonders delikaten Sachverhalt. Zu Wochenbeginn berichtete als erste die Sunday Times, tags darauf bestätigte es das V&A: Roth nimmt nach fünfjähriger Tätigkeit in London seinen Hut. Die deutschen Medien, auch diese Zeitung, stellten Roths Enttäuschung über den Brexit in den Vordergrund, in der V&A-Erklärung war hingegen von „mehr Zeit für die Familie“ die Rede. Die schlichte Auftaktfrage beim persönlichen Gespräch lautet also: Herr Roth, warum verlassen Sie das V&A?

Hervorragend aufgestelltes Haus

Es folgen vergnügliche Minuten, in denen der Interviewer nicht einmal mehr als Stichwortgeber gebraucht wird, schließlich ist Roth dieselbe Frage in den vergangenen Tagen dutzendfach gestellt worden. Er sagt also als erstes: „Es ist Zeit zu gehen, besser kann es nicht werden.“ Das klingt zwar, wie der Direktor selbst sofort einschränkt, „ziemlich arrogant, aber es was Wahres dran“.

Tatsächlich hinterlässt der Deutsche ein hervorragend aufgestelltes Haus. Das nach der britischen Königin Victoria (1837–1901) und ihrem deutschen Prinzgemahl Albert von Sachsen-Coburg-Gotha benannte, kostenlos zugängliche Museum kann sich vor interessierten Besuchern kaum retten. Deren Interesse gilt den Sammlungen für Kunstgewerbe und Keramik, Handwerk und Malerei ebenso wie den immer wieder spektakulären Sonderausstellungen, die zur Finanzierung beitragen. Höhepunkte der letzten Jahre waren die David-Bowie-Retrospektive vor drei Jahren und die Schau zu Ehren des Modedesigners Alexander McQueen 2015 mit jeweils rund einer halben Million Besuchern. Derzeit läuft eine Ausstellung über wegweisende Ingenieurskunst sowie über Unterwäsche aus vier Jahrhunderten, an diesem Wochenende eröffnet die neue „Revolution“-Schau, die dem anhaltenden Einfluss der späten 60er-Jahre auf Musik, Design und Lebensgefühl nachspürt.

Roth hat Millionen von Sponsorengeldern eingetrieben, die Finanzierung ist auf Jahre hinaus gesichert, die Planungen für eine Dependance im Londoner Osten sind weit fortgeschritten. „Ich hinterlasse eine ausbalancierte Situation, wirtschaftlich und inhaltlich“, sagt der Deutsche, der nach seiner Arbeit für die Expo und als Leiter der Kunstsammlungen in Dresden 2011 nach London kam. Bis heute ist er stolz darauf, der Erste gewesen zu sein: der erste Ausländer im Cockpit eines der großen Londoner Nationalmuseen, seit ein Schweizer im 19. Jahrhundert einige Jahre lang das Britische Museum leitete; aber vor allem auch der erste Deutsche.

Stolz empfindet Roth, aber auch Dankbarkeit, schließlich habe die Entscheidung „von den damals Verantwortlichen Mut“ gefordert. Und schon gerät der 61-Jährige ins Schwärmen: „Das V&A ist das schönste Haus von allen. Ich bin absolut loyal. Ich gehe auf die Straße und halte einen Vortrag, wie toll das Haus ist. Das andere ist meine persönliche Sache.“

Träume von einer Großmacht

Das andere ist der Brexit, von dem der Museumsmacher entsetzt war, „das spürte ich körperlich.“ Natürlich füge sich der neue britische Nationalismus „in etwas Größeres ein“, schließlich spüren die Putins, Le Pens, Orbans und Petrys auch auf dem Kontinent Aufwind. „Aber dass ausgerechnet Großbritannien anfängt mit diesem Unsinn, darüber bin ich persönlich enttäuscht.“ Roth lässt die monatelange Debatte vor der Entscheidung vom 23. Juni Revue passieren, die Großmachtträume, die Erbsenzählerei, das hemmungslose Dahergerede, „und hinterher war alles gar nicht so gemeint.“

Spitzenpolitiker hätten gelogen, sagt Roth, will zunächst keine Namen nennen, widerspricht aber nicht, als sie genannt werden: der damalige Justizminister Michael Gove, der jetzige Außenminister Boris Johnson, die deutschstämmige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart.

Selbstkritik gehört dazu. Die Leiter der großen Nationalmuseen in London hätten versäumt, in der Debatte klar Stellung zu beziehen: „Das ist ein Armutszeugnis.“

Genauso bewertet Roth das beredte Schweigen der Direktoren von Opernhäusern, großen Theatern und Museen quer durch Europa über die allerorten ausbrechende nationalistische Zündelei. Es sei „Teil unserer Verpflichtung“, den Geist der Aufklärung, bei vielen Museen zumal den revolutionären Geist der Bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts hochzuhalten.

Das V&A hat Roth geliebt, „und ich liebe es weiterhin“, anders als von manch frustrierten Kuratoren behauptet. Aber er braucht  Abstand von der Museumswelt, will sich „politisch engagieren“, wenn auch nicht parteipolitisch. Im kommenden Jahr wird er ehrenamtlicher Präsident des deutschen Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) in Berlin. Spätestens dann wird man häufiger von Martin Roth hören, und zwar „Positives über die offene Gesellschaft“.