Nord Stream: Warum die Story mit der Segeljacht Andromeda nicht stimmen kann
Die Recherchen von ARD und Zeit sind lückenhaft. Experten sehen viele Ungereimtheiten in den Berichten. Und einen verdächtigen Öltanker namens Minerva Julie.

Holger Stark ist einer der erfahrensten Journalisten des Landes. Er leitet das Investigativ-Ressort der Wochenzeitung Die Zeit. Zusammen mit anderen Redaktionen der ARD veröffentlichte Stark am 7. März 2023 auf Zeit Online Rechercheergebnisse zu den Anschlägen vom Sommer 2022 auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee.
Der Zeit-Bericht stützt sich vor allem auf die Informationen von nicht näher genannten „Ermittlern“. „Die Geheimoperation auf See soll den Ermittlungen zufolge von einem Team aus sechs Personen durchgeführt worden sein“, heißt es in dem Text weiter. Kurz erklärt soll eine polnische Firma, die zwei Ukrainern gehört, eine 15 Meter lange Segeljacht in Rostock angemietet haben.
In Wiek auf Rügen soll das Boot dann von sechs Personen, darunter zwei Tauchern, bestiegen worden sein, die Sprengstoff zum Tatort vor Bornholm transportiert und Sprengladungen an den Strängen von Nord Stream 1 und 2 platziert haben sollen. Dem Bericht zufolge könnte es sich bei dem Kommando um eine „proukrainische Gruppe“ gehandelt haben. Das geschilderte Szenario klingt spektakulär. Zu spektakulär vielleicht?
Der Öltanker Minerva Julie wird von den deutschen Medien ignoriert
Auf Twitter jedenfalls sorgte der Bericht für viele kritische Fragen an die Rechercheure durch Experten und Journalisten. Der Welt-Journalist Hans-Martin Tillack etwa fragte Holger Stark, ob die Behörden etwas zu dem unter griechischer Flagge fahrenden Öltanker Minerva Julie gesagt hätten, der von Russland aus regelmäßig andere europäische Häfen anlaufe und während der Detonationen in dem Seegebiet um die Tatorte kreuzte.
Und ob „wirklich niemand in den vier Redaktionen einen Gegencheck mit verfügbarer OSINT gemacht“ habe. Anmerkung der Redaktion: Das ist die Auswertung von allen offen verfügbaren Informationen wie etwa Positionsdaten von Schiffsrouten. Die Antwort: „Die Route des Frachters ist den Behörden seit langem bekannt, wir haben mehrfach danach gefragt. Nach meinem Stand gibt es trotz monatelangen Ermittlungen keine Hinweise auf eine Beteiligung. Deinen letzten Satz verstehe ich zugegeben nicht“.
Eine Aussage, die verwundert. Weiß einer der renommiertesten Investigativ-Journalisten des Landes etwa nicht, was die auch von Geheimdiensten angewendete Methode OSINT ist? Eine Antwort blieb Stark in der Folge schuldig. Aber nicht nur diese Reaktion auf eine kritische Nachfrage eines Kollegen sorgt für Zweifel an dem Bericht des Rechercheverbundes.

OSINT-Analyst Oliver Alexander glaubt nicht an Taucher
Vor allem Experten sind nach dem Bericht der Journalistenlegende Seymour Hersh zum möglichen Tathergang misstrauisch gegenüber Recherchen, die sich mehrheitlich auf eine für den Leser nicht weiter nachprüfbare anonyme staatliche Quelle berufen. Der Grund: Die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines ist eine heikle geopolitische Angelegenheit. USA, die Russen, europäische Staaten oder China, viele Nationen könnten ernst zu nehmende Motive für den Sabotageakt gehabt haben.
Der Däne Oliver Alexander, der sich selbst als „Analyst mit einer Passion für OSINT“ beschreibt, gilt seit den Explosionen der Nord-Stream-Pipeline als einer der versiertesten Experten. In seinen zurückhaltenden Analysen wertet er Karten und Schiffsdaten aus und ist auch für Redaktionen eine gute Quelle. Im Februar wies er auf seinem Substack-Account Seymour Hersh Schlamperei bei seinen Recherchen nach. Auch an der Darstellung des Zeit-Berichts hegt Alexander Zweifel.
Er konnte nachweisen, dass der im Zeit-Bericht beschriebene Hafen in Wieck auf dem Darß nicht tief genug für die angesprochene Segeljacht ist. Nur 1,40 statt der erforderlichen 2,25 Meter. Außerdem hätte die Jacht bei ihrer Fahrt zum Tatort einen riesigen Umweg über den Bodden machen müssen. Er schlussfolgerte daraus, dass es sich bei dem betreffenden Hafen um Wiek auf Rügen gehandelt haben muss. Daraufhin korrigierte der Rechercheverbund seinen Artikel entsprechend.
Hat eine New-York-Times-Recherche Zeit und ARD unter Druck gesetzt?
Ein Flüchtigkeitsfehler? Vielleicht, aber dass das mehreren investigativen Redaktionen bei der Recherche nicht aufgefallen war, lässt vermuten, dass der Rechercheverbund mit einer eigenen Story zügig auf einen vorausgegangen Bericht in der New York Times reagieren wollte. Und auch bei anderen Punkten der Zeit-Recherche sieht Alexander Schwächen. Die Darstellung, dass auf dem Tisch der Jacht Spuren von Sprengstoff gefunden worden seien, passe nicht zu einer professionellen Operation mit Schwerpunkt auf Geheimhaltung.
Auch eine große Menge von Sprengstoff, die New York Times geht von bis zu 500 Kilogramm Sprengstoff pro Sprengung aus, zusammen mit Taucherflaschen und Ausrüstung auf ein so kleines Segelboot zu verladen, sei für die Ausführung so einer Operation „fast unmöglich“ und „besonders unpraktisch“. Die Sprengladungen an einer der tiefsten Stellen im Seegebiet zu legen, dort, wo es am schwierigsten und zeitaufwändigsten ist, sie zu platzieren, sei ebenfalls nicht nachvollziehbar.

AIS-Daten beweisen, dass die Minerva Julie über der Pipeline kreuzte
Die Berliner Zeitung hat dazu mit dem Karlsruher Sprengtechnikexperten und Lehrbeauftragten am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) David Domjahn gesprochen, der auch regelmäßig in der ARD zitiert wird. Domjahn hält die aufgebrachte Theorie höchstens für ein Ablenkungsmanöver und zweifelt an der Darstellung des Rechercheverbunds: „Bereits die Vorstellung, dass rund zwei Tonnen Sprengstoff in handlichen Einzelpaketen ohne Kran an Bord verlastet hätten werden müssen, finde ich abenteuerlich.“
Angenommen, man glaube der Theorie: Für Sprengungen unter Wasser eigne sich nicht jeder Sprengstoff, sagt Domjahn. Denn dieser müsse wasserfest sein. Hier kämen etwa C4 oder Semtex in Frage. Semtex kommt aus dem militärischen Bereich, hat aber auch im gewerblichen Bereich Einzug gefunden und wird bei Sprengarbeiten eingesetzt.
Der gewerbliche Kilopreis liegt bei etwa 100 Euro bei Abnahme kleiner Mengen. Für die einfache Handhabbarkeit werden plastischen Sprengstoffe üblicherweise in 500-Gramm-Blöcken angeboten und in 25-kg-Chargen geliefert. Der Gesamtpreis im gewerblichen Handel liegt bei rund 200.000 Euro, abzüglich möglicher Mengenrabatte.

Insgesamt wären das in diesem Fall also um die 80 Kartons, mit der Herausforderung, diese ohne Kran per Hand an Bord zu verlasten, so der Experte. Für die Anfertigung einer 500-kg-Sprengladung bedürfe es daher dann einem Zusammenfügen von rund 1000 einzelner Sprengstoffpäckchen.
„Das ganze muss dicht an dicht gepackt zu einer sogenannten geballten Ladung gepackt werden. Ein solches aus Einzelpäckchen bestehendes 500-kg-Paket ist weder über, noch unter Wasser alleine schon vom Gewicht her schwer handhabbar“, sagt Domjahn.
Eine derartig aberwitzige Sprengstoffmenge sei für diesen Einsatzfall auch gar nicht erforderlich gewesen – im besten Fall wären pro Trennschnitt etwa 10 Kilogramm Schneidladung ausreichend gewesen, um mit minimaler Explosivstoffmenge die maximale Wirkung zu erzeugen. Allerdings spräche die öffentlich zugängliche Spurenlage eher von einer neben oder auf die Gasleitung positionierten größeren Sprengladung.
„Für viel wahrscheinlicher halte ich es, dass ein staatlicher Akteur sogenannte Grundminen aus Militärbeständen nutzte, die genau für solche Einsatzzwecke konzipiert sind, zumal die seismischen Rückschlüsse tatsächlich überdimensionierte Sprengladungen vermuten lassen“, sagt der Experte.
Die Aussagen des Sprengstoffexperten Domjahn könnten darauf hindeuten, dass die Sprengladungen durch den angesprochenen Tanker Minerva Julie angebracht und gezündet worden sein könnten. Einem Schiff, das bis jetzt nur wenig im Fokus der Berichterstattung stand. Der Tanker aber fährt regelmäßig russische Häfen an.
Oliver Alexander konnte in seinem Blogbeitrag durch die Auswertung von frei zugänglichen AIS-Positionsdaten nachweisen, dass der im Bericht des Rechercheverbundes nicht erwähnte Tanker zum Tatzeitpunkt zwischen dem 5. und 13. September im Gebiet kreuzte. Business Insider verifizierte die Recherche von Alexander.
Ungewöhnlich für ein Handelsschiff. Von dort fuhr das Schiff über Tallinn weiter nach St. Petersburg, wo es am 18. September ankerte. Am 26. September detonierten dann die beiden Pipelines von Nord Stream 1 und 2.
Die Minerva Julie war womöglich also genau zum gleichen Zeitpunkt wie die Segeljacht „Andromeda“ vor Ort. „Die Andromeda zu nutzen, um das Team und mögliche Vorräte zu transportieren und sich mit der Minerva Julie zu treffen, klingt für mich nach einem plausiblen Szenario“, schreibt auch Alexander.
Gefälschte Pässe, eine Ärztin und zwei Tonnen Sprengstoff?
Auch der Spiegel veröffentlichte am Freitag eine eigene Recherche zum Thema. In der abenteuerlichen Reportage, die viele Beschreibungen der Gegend um Wiek auf Rügen und dem kleinen Hafen liefert, heißt es: „Einer der Hafenmeister im Ort erzählt, ihm sei im vergangenen Herbst eine Gruppe aufgefallen. Gekleidet wie normale Segler. Ihre Sprache klang für ihn Polnisch oder Tschechisch. Sie trugen etliche Einkaufstüten aus dem Supermarkt an Bord. An das genaue Datum erinnere er sich nicht. Er sei sich aber sicher, dass es mehrere Männer waren – und eine Frau.“
Falls die blumigen Erinnerungen des Hafenmeisters wahr sein sollten, könnte das die Theorie von Oliver Alexander, wonach die kleine Segeljacht höchstens nur für den Transport der Crew zum Tanker Minerva Julie genutzt wurde, bestätigen.
Bei aller Abenteuerlichkeit der Segeljacht-Geschichte, woher die betreffenden Personen kamen und ob es sich wirklich um Taucher, Tauchassistenten, einen Kapitän und eine Ärztin handelte, das kann zum jetzigen Zeitpunkt auch überhaupt nicht geklärt werden.
Die Berliner Zeitung hat dazu mit einem der Rechercheure von Zeit und ARD gesprochen. Man habe weder Fotos noch Dokumente von der Quelle bekommen, die man einsehen hätte können, sagt der Rechercheur. Auch ob es sich um eine Ärztin, Taucher und einen Kapitän gehandelt habe, habe man nicht selbst einsehen können. Das seien die „Schlussfolgerungen der Ermittler“.
Die Detonation wurde von schwedischen Behörden registriert
Auf die Frage, ob man es in der Redaktion für plausibel hält, dass viele Taucherflaschen mit einem speziellen Sauerstoff-Gemisch für tiefe Tauchgänge und fast zwei Tonnen Sprengstoff auf dem Boot verladen und die Sprengungen durch Tauchgänge gelegt worden seien, antwortet der Journalist: So viel Sprengstoff brauche man doch gar nicht unbedingt, um eine solche Röhre erfolgreich zu zerstören. In der Röhre herrsche so großer Druck, da reiche doch eine ganz kleine Sprengladung.
Wir bitten den Sprengstoffexperten Domjahn um seine Einschätzung. Im Prinzip habe der Journalist recht. „Aber es gab im Sommer 2022 bei der Zerstörung von Nord Stream 1 und 2 durch Seismogramme nachweislich erfasste stärkere Detonationen“, sagt er. Und das ist nicht nur Domjahns eigene Einschätzung, sondern ein anerkannter Fakt. Denn laut Aufzeichnungen der Station Delary (DEL) des Schwedischen Nationalen Seismologischen Netzwerks (SNSN) seien zum Tatzeitpunkt zwei Ereignisse im Abstand von wenigen Sekunden registriert worden. Welleneigenschaften deuten auf Explosionen und nicht auf ein tektonisches Ereignis hin. Später wurde eine dritte Detonation registriert.
Seismisch seien 500-Kilogramm-TNT-Sprengstoffäquivalent ermittelt worden. „Der Sinn, in diesem Fall von einer Motorjacht aus mit überdimensionierten Sprengstoffmengen zu arbeiten, erschließt sich mir nicht“, sagt Domjahn. Die seismisch ermittelten Sprengungen seien für den Anwendungsfall überdimensioniert. Warum der unnötige Aufwand? „Gerade bei Einsatz von Tauchern ergebe es einfach keinen Sinn, vom Minimax-Prinzip, das heißt bei minimaler Dimensionierung der Explosivstoffmenge bei maximaler Wirkung, abzuweichen.“
Bei einer militärischen Grundmine, wie sie im militärischen Bereich standardmäßig verwendet wird, brauche man sich über Mengen keine Gedanken zu machen. Domjahn hält dies für die einfachste und plausibelste Möglichkeit und die dem Seismogramm und dem öffentlich zugänglichen Spurenbild entsprechen könnte.
Ein kleiner Unsicherheitsfaktor bleibe dabei noch, denn hinsichtlich des seismisch ermittelten TNT-Sprengstoff-Äquivalentes bedarf es ebenfalls noch der Betrachtung, ob das Bersten der unter Betriebsdruck stehenden Gasleitungen einen Beitrag bei der Erschütterung geleistet habe.
Bedeutet: Die zeitlichen Ereignisse der Detonation des Sprengstoffes und das unmittelbar folgende Freisetzen des komprimierten Gases lägen im Bereich einiger Millisekunden dicht beieinander. „Fachlich kann ich keine Einschätzung treffen, welchen Impulsanteil das Bersten verursacht haben könnte“, sagt Domjahn.
Bei Behörden und Geheimdiensten als Informanten ist Vorsicht geboten
Laut der Recherche des Spiegels hatten die Ermittlungen zur Segeljacht angeblich bis jetzt keine besondere Priorität beim Bundeskriminalamt: „Nach Spiegel-Informationen sind nur wenige Beamtinnen und Beamte des Referats ST24 mit dem Fall befasst. Zum Vergleich: In dem Verfahren gegen die mutmaßlich militante Reichsbürger-Zelle um Heinrich XIII. Prinz Reuß ermittelten zeitweilig fast 400 Kriminalisten des BKA.“
Ein interessanter Vergleich, denn bei der Enttarnung der Reichsbürger-Zelle um den Prinzen „Riko“ gab es am Anfang ja auch ein ziemliches Getöse um den angeblich „größten Anti-Terror-Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik“. Später stellte sich das Ganze dann als eine ziemlich aufgeblasene PR-Aktion des Bundesinnenministeriums dar.
Auch im Falle der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines wird die Zeit wahrscheinlich zeigen, wie es wirklich abgelaufen ist. Eins sollte man als Investigativreporter allerdings immer beachten: Behörden und Geheimdienste haben ihre eigene Agenda und manchmal benutzen sie dafür auch Journalisten.
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