Nach der Bundestagswahl 2017: Wir brauchen eine neue gesellschaftliche Intelligenz
Bedeutet dieser Wahlausgang das Ende der schönen deutschen Ausnahme mit kooperationsfähigen Volksparteien und pointiert sich artikulierenden Milieu- und Regionalparteien in einem dynamischen Kapitalismus sowie mit, das muss auch der hoffnungsloseste Kapitalismuskritiker zugestehen, menschlichen Zügen? Vor den Ferien sah es noch so aus, als würde das deutsche Elektorat wie 2008 Ruhe bewahren und die Systemverächter auf allen Seiten in die Schranken weisen.
In den USA ist ein Präsident zu beobachten, der große Sprüche klopft, aber nichts zustande bringt. Und in Großbritannien entpuppt sich der vom politischen Establishment großmäulig ratifizierte Brexit als ein nicht mehr machbares Desaster. Es schien daher für die allermeisten keine gute Idee zu sein, die Mischung aus sozialer Verzweiflung und nationalen Größenfantasien auch in Deutschland anzurühren.
Jetzt könnte man den Eindruck gewinnen, dass wie in Frankreich, in Dänemark oder in den Niederlanden das politische Zentrum der Gesellschaft vor unseren Augen zerbröselt. Die AfD sitzt der CDU im Nacken, die nicht mehr weiß, was es für sie bedeutet, konservativ zu sein.
Die CSU hat genug mit sich selbst zu tun, und kann daher der Union insgesamt bei der jetzt parteiintern notwendig werdenden „geistig-moralischen Wende“ nur wenig hilfreich sein. Aber auch die SPD hat ihr AfD-Problem, weil sie keine Ahnung mehr davon hat, wer ihr vorrangiger Adressat als „Schutzmacht der kleinen Leute“ ist.
Die FDP kann triumphieren
Und die Linke hat ihr Monopol eingebüßt, die Gerechtigkeitslücke in Ostdeutschland einzuklagen. Es ist für den Moment nicht mehr ausgeschlossen, dass der nächste Ministerpräsident in Sachsen von der AfD gestellt wird.
Die FDP kann triumphieren, weil es Christian Lindner geschafft hat, die Partei von ihrer neoliberalen Staatsphobie zu erlösen und sie wieder näher an das heranzuführen, was man früher Sozialliberalismus nannte.
Und die Grünen können sehr damit zufrieden sein, dass sie sich aus der Furcht vor dem kulturellen Machtgewinn der AfD als Sprachrohr der bessergebildeten und sozialmoralisch sensiblen gesellschaftlichen Mitte stabilisiert haben.
Aber der Preis besteht in beiden Fällen in der Abschottung der sie repräsentierenden sozialmoralischen Milieus von einer Gesellschaft, in der die Linien der Gekränktheit sich durch alle Milieus zu ziehen scheinen.
Das Thema Digitalisierung hat eine hohe Priorität
Das Bild stellt sich aber sofort ganz anders dar, wenn man die AfD für einen Augenblick zur Seite schiebt und sich fragt, wie die Zukunftsfragen der deutschen Gesellschaft in eine Jamaika-Koalition verhandelbar gemacht werden könnten.
Die Liberalen werden mit allem Nachdruck das Thema der Digitalisierung auf die Agenda setzen. Da ist ihnen bisher außer Glasfaserkabelanschluss und Bildung für Smartphones noch nicht so viel eingefallen. Aber sie sind auch nicht dem Silicon-Valley-Gerede einer gespaltenen Welt zwischen Systemanalysten und Grundeinkommensbeziehern auf den Leim gegangen.
Wichtig ist jetzt, dass die FDP die Fühler in die Wirtschaft ausstreckt und sich brennend dafür interessiert, was „Deep Innovation“ in Antwort auf „Disruption“ bei unseren Hidden Champions bedeutet.
Dazu werden ihnen die Grünen diktieren, dass der Rohstoff der Daten ganz andere Praktiken der gesellschaftlichen Selbstorganisation und des persönlichen Selbstverständnisses im Plattform-Kapitalismus mit sich bringt, und dass sich daraus ganz neue Fragen für Bürgerrechte und Verbraucherschutz ergeben.
Und was bleibt CDU und CSU?
Die Grünen rennen bei Angela Merkel, was die intelligente Adaption an den Klimawandel betrifft, offene Türen ein. Genau deshalb werden sie sich in dieser Frage nicht nur in Bezug auf Maßnahmen der Kontrolle von Grenzwerten schärfen und die berechtigten Fragen der Liberalen, was die irre Vermachtung der Energiemärkte angeht, aufnehmen müssen. Die Wähler erwarten von ihnen in der kommenden Legislaturperiode ein eigenes Profil für eine neue gesellschaftliche Intelligenz.
Und was bliebe der CDU und der CSU? Sie müsste zunächst einmal in der bewährten Manier der Kanzlerin den kontinuierlichen Abstimmungsprozess zwischen den Liberalen und den Grünen moderieren. Aber ihr Päckchen ist Europa. Die Botschaft aller populistischen Bewegungen und Parteien lautet Schutz oder Protektion.
Sie bringen damit die in der Bevölkerung insgesamt zu registrierende Einsicht zum Ausdruck, dass wir das Ende einer dreißig- bis vierzigjährigen Periode erreicht haben, deren zentrale Botschaft darin bestand, dass eine gute Gesellschaft eine Gesellschaft starker Einzelner ist.
Und dass deshalb der Politik keine andere Aufgabe zukommt, als nach Maßgaben einer Humanökonomie der Kompetenzen und Potenzen die Selbstdurchsetzungsfähigkeit der einzelnen zu stärken. Daran glaubt heute niemand mehr.
Die SPD sollte ihre Zeit in der Opposition nutzen
Der Neoliberalismus wird von einer Mehrheit in den europäischen Gesellschaften als eine Ideologie angesehen, die viele der Schutzlosigkeit preisgegeben hat. Hier haben die Konservativen die Aufgabe, ein anderes Denken zu entwickeln, das die Person ins Zentrum der sie tragenden und schützenden kleinen Lebenskreise stellt. Und wenn sie diese Aufgabe nicht lösen, dürfen sie sich nicht wundern, dass ihnen die Sozialdemokraten die Butter vom Brot nehmen werden.
Die SPD hat in der Opposition die Chance, jenseits eines bösen antikapitalistischen Ressentiments das postkapitalistische Vorstellungsvermögen so zu beflügeln, dass für Deutschland und für Europa eine Zukunft vorstellbar ist, vor der man sich nicht fürchten muss.
Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Zuletzt erschien: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen (Hanser)