Nach der Flucht aus Berlin: Was in der Nacht geschah, als Anis Amri erschossen wurde
Rom - Die Piazza Primo Maggio vor dem Bahnhof der Mailänder Industrie-Vorstadt Sesto San Giovanni muss gegen drei Uhr nachts fast menschenleer gewesen sein. Bis auf einen jungen Mann mit kleinem Rucksack auf dem Parkplatz des gegenüberliegenden Einkaufszentrums. Er fällt den beiden Polizisten auf, die in ihrem Dienstwagen Streife fahren. Sie stoppen, steigen aus, fragen ihn nach seinen Papieren. Als Antwort zieht der Mann sofort eine Pistole aus dem Rucksack und schießt. „Poliziotti Bastardi“ – Schweinepolizisten – soll er dabei gerufen haben.
Christian Movio, ein 36 Jahre alter Beamter, wird an der Schulter getroffen. Es ist sein 29 Jahre alter Kollege Luca Scatà, der die Dienstwaffe abfeuert und den Angreifer niederstreckt. Anwohner, durch die Schüsse geweckt, melden sich beim Polizei-Notruf.
Route führt über Frankreich
Am Freitagvormittag gegen elf Uhr hält das Innenministerium in Rom eine Pressekonferenz ab. In Sesto San Giovanni sei ein Mann erschossen worden, erklärt Minister Marco Minniti, und nach den erforderlichen Untersuchungen sei sicher: Es handle sich „ohne den Schatten eines Zweifels um Anis Amri“, den nach dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt meistgesuchten Terrorverdächtigen Europas. Weitere Details der nächtlichen Operation könne er nicht bekanntgeben: „Die Ermittlungen laufen, und es könnte weitere Entwicklungen geben.“
Amri, der im Verdacht steht, an der Berliner Gedächtniskirche zwölf Menschen getötet zu haben, war offenbar mit dem Zug nach Italien unterwegs, während in Berlin fieberhaft nach ihm gefahndet wurde, berichten italienische Medien unter Berufung auf die Anti-Terror-Einheit Digos. Er reiste nicht direkt, sondern nahm den Umweg über Frankreich. Über Chambéry gelangte er nach Turin. Von dort nahm er einen Zug nach Mailand, wo er am Freitag gegen ein Uhr nachts am Hauptbahnhof ankam und dann im Bus ins nördlich gelegene Sesto San Giovanni weiterfuhr.
Amri kannte Italien gut. Der Tunesier war 2011 als Bootsflüchtling in Lampedusa gelandet, wurde wenig später in Sizilien wegen Brandstiftung und Diebstahls verurteilt und saß vier Jahre in italienischen Gefängnissen. Anhand seiner Fingerabdrücke, die die Behörden damals speicherten, konnte er nun identifiziert werden. Ob die Pistole, mit der in Sesto San Giovanni schoss, dieselbe ist, mit der auch der polnische Lkw-Fahrer in Berlin getötet wurde, muss noch überprüft werden. Amri war allein, er hatte keine weiteren Waffen bei sich und auch kein Handy – weil er nicht geortet werden wollte, sagt der Mailänder Polizeichef Antonio De Iesu. Nur einige hundert Euro seien bei ihm gefunden worden und mehrere Zugfahrkarten, anhand derer die Fluchtroute rekonstruiert wurde.
Weshalb kehrte der Tunesier nach Italien zurück, was wollte er in Sesto San Giovanni? Hatte er Unterstützer in der großen, aber recht gut integrierten muslimischen Gemeinde dort? Wen wollte er vor dem Bahnhof treffen? Das versuchen nun Digos und die Mailänder Staatsanwaltschaft herauszufinden.
Polizisten als Helden
In Italien, das gerade erst eine Regierungskrise bewältigt hat und noch voll damit beschäftigt ist, mit Milliardensummen von Steuergeldern die maroden Banken zu retten, war am Freitag enorme Genugtuung zu spüren. „Dass wir den in ganz Europa gesuchten Terroristen neutralisiert und identifiziert haben, zeigt, dass es ein funktionierendes System gibt. Italien kann stolz sein“, sagte Innenminister Minitti. Premier Paolo Gentiloni, keine zwei Wochen im Amt, erklärte vor Journalisten in Rom, das Land stehe vor großen Herausforderungen, aber es habe gezeigt: „Der Staat ist da, Italien ist da.“
Den beiden Streifepolizisten aus Sesto San Giovanni dankte er für ihren Mut. Christian Movio muss eine Kugel aus der Schulter entfernt werden, er ist aber nicht schwer verletzt. Er und sein Kollege Luca Scatà, der erst seit kurzem Polizist und noch auf Probe ist, werden in den sozialen Netzwerken als Helden gefeiert.