„Nein zum Heim“: Nach Pandemie und Krieg sind Flüchtlinge wieder ein Thema in Sachsen
Kein anderes Bundesland scheint so empfänglich für Populismus und Fremdenfeindlichkeit zu sein wie Sachsen. In Einsiedel kann man aber auch das Gegenteil beobachten.

Manchmal mache ich es einfach und mir damit leicht, zähle da ab, wo ich gerade bin, in der Tram, auf dem Marktplatz, beim Elternabend in der Schule: eins, zwei, drei – aha. Und da sitzt er, oder da steht sie dann also, und wenn morgen Landtagswahlen wären, denke ich, würden er oder sie vielleicht die sogenannte Alternative für Deutschland wählen, weil fast ein Drittel aller Sachsen das laut Umfragen tun würde. Kein anderes Bundesland scheint so empfänglich für Populismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu sein. Nirgends der Rand radikaler, die Mitte enthemmter. Warum eigentlich?
Neulich war ich in Einsiedel, einem Vorort von Chemnitz: Ortspyramide, Brauhaus, „Heimatverein Spießgeselle“, 3500 Einwohner, und oben, kurz vor der Waldgrenze, ein altes Pionierlager, in das vor allem die Familien afghanischer Ortskräfte eingezogen sind. An einem sonnigen Montagvormittag schloss sich das mit Stacheldraht verstärkte Tor hinter ihnen, fuhren die zu ihrer Sicherheit einbestellten Polizisten wieder nach unten ins Tal. Vor sieben Jahren war es nicht so friedlich gewesen.
Einsiedel – das klingt wie ein „Willkommen“ auf der Fußmatte, bitte eintreten, hinter dieser Tür können alle jederzeit ein neues Leben beginnen. Die Wahrheit ist eine andere: nicht alle, schon damals nicht.
Nachdem sich 2015 die Gerüchte bestätigt hatten, dass Flüchtlinge im Pionierlager untergebracht werden sollen, gründete sich bald die Bürgerinitiative „Nein zum Heim“ in Einsiedel, tauchten Schilder in Vorgärten und an Zäunen auf: „Toleranz darf nicht dazu führen, dass wir uns alles gefallen lassen“ oder „Wir müssen unsere Kinder schützen“. Bis zu tausend Menschen zogen durch die Straßen, die nun „Merkelmussweg“ hießen. Wochenlang blockierten sie die Zufahrt zum Pionierlager, und als die Flüchtlinge trotzdem einzogen, flogen im April 2016 „brennende Behältnisse“ über den Stacheldrahtzaun. So isser, der Sachse?
Sie sind in der Mehrzahl, zumindest jetzt
Gegen die Corona-Maßnahmen geifert kaum noch jemand da draußen, der „heiße Herbst“ war eher Funke als Flamme. Die selbsternannten Patrioten spielen nach Pandemie und Krieg die nächste Runde Bullshitbingo und sind bei ihrem Ursprungsthema angelangt: der Einwanderung. Und das nicht nur in Einsiedel, sondern auch in Bautzen, Kriebethal, Naunhof, Sporbitz. Im nordsächsischen Laußig standen gerade mehrere Hundert Menschen vor dem Gemeindehaus: „Wir wollen keine Asylantenheime!“– und der parteilose Bürgermeister am Fenster antwortete ihnen: „Da habt ihr auch alle recht. Wir wollen das alle nicht. Da sind wir uns doch alle einig.“ Wirklich alle?

An einem Mittwochabend in Einsiedel, es schneit, die Pyramide dreht sich, und genau hier muss er verlaufen, der Riss, Spalt, Graben, je nachdem, wie weit man in die Breite gehen will, um zu beschreiben, was die Gesellschaft trennt. Auf der einen Seite die sogenannten Spaziergänger („Ich verteidige meine deutschen Werte!“), die nicht wollen, dass sich 2015 wiederholt, auf der anderen die Gegendemonstranten („Was soll das sein, Kartoffelpüree?“), die das Gleiche und doch genau das Gegenteil fordern. Und dazwischen, im moralischen Spagat über dem Abgrund, steht die Polizei. Die Auffahrt zum Pionierlager bleibt für alle gesperrt.
Ich gehe von rechts nach links, trete über den Riss, Spalt, Graben und zähle einfach mal wieder durch: eins, zwei, drei … zehn … zwanzig … fünfzig – aha. Sie sind in der Mehrzahl, zumindest an diesem Abend. Eine Woche später sieht es schon wieder anders aus.
In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!