Netanjahu in Berlin: Warum ist er hier? Und warum wird Israel aktuell so kritisiert?
Der israelische Ministerpräsident ist auf Europa-Tour. Zeitgleich demonstrieren Hunderttausende Israelis gegen die Justizreform. Eine Analyse.

Für über zwei Tage ist die Berliner City West im Ausnahmezustand. Für die Bezirke Charlottenburg-Wilmersdorf und Mitte gilt die höchste Sicherheitsstufe, es ist mit starker Polizeipräsenz und Absperrungen zu rechnen. Denn der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wird zum ersten Mal seit seiner erneuten Amtseinführung nach Berlin kommen. Jedoch steht sein Besuch unter schwierigen Vorzeichen. Grund dafür sind die umstrittenen Justizreformen, die die israelische Gesellschaft zunehmend spalten.
Politisch steht Netanjahu unter Druck. Durch die Proteste um die Justizreform wie auch den Konflikt mit Palästina steht Netanjahus Regierung immer mehr in der Kritik. Doch nicht nur innerhalb des Landes, auch international schaut man mit Sorge auf die Ereignisse in Israel. So ist besonders von Verbündeten Israels vermehrt Kritik an der Politik der religiös orientierten Regierung in Jerusalem zu vernehmen. Die USA – der wichtigste Verbündete Israels – haben Netanjahu auch nach fast drei Monaten im Amt weiterhin nicht eingeladen, während er von den Vereinigten Arabischen Emiraten wieder ausgeladen wurde. Eine Europa-Tour durch Italien, Deutschland und Großbritannien soll nun das Ansehen der Netanjahu-Regierung verbessern und internationale Einigkeit signalisieren.
„Im Vordergrund stehen Gespräche mit den Verbündeten und zukünftige Sicherheitskooperationen“, sagt Peter Lintl, Israel-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Auch über den Iran wird Netanjahu in Rom, Berlin und London sprechen“, sagt Lintl. Der israelische Ministerpräsident trifft sich während seines Deutschland-Besuchs im Bundeskanzleramt mit Olaf Scholz (SPD) sowie im Schloss Bellevue mit Präsident Frank-Walter Steinmeier. Auch ein Besuch am Holocaust-Mahnmal Gleis 17 am Bahnhof Grunewald steht auf Netanjahus Agenda.
Spricht Olaf Scholz auch über unbequeme Themen?
Der heikelste Punkt des Netanjahu-Besuchs wird jedoch die Justizreform sein. „Die entscheidende Frage ist: Wie stark wird Olaf Scholz seine Differenzen zur Justizreform deutlich machen?“, sagt Lintl. Demnach werde man abwarten müssen, ob der Bundeskanzler Differenzen bezüglich des Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung auch öffentlich darlegt oder die Diskussionen um die umstrittene Reform verschweigt.

Doch worum geht es genau bei der Justizreform, die den Alltag in Israel in den vergangenen Wochen bestimmt hat? Israel-Experte Lintl kritisiert schon den Begriff Reform: „Das ist nämlich keine Reform im herkömmlichen Sinne, sondern eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofs.“ Es sei ein schwerwiegender Eingriff in die Demokratie, da der Oberste Gerichtshof in Israel die einzige Einrichtung sei, die effektive Kontrolle über das Parlament ausübe.
Vorbilder Ungarn und Polen
Die Folgen der Reform wäre ein Justizsystem, das jenen in Ungarn und Polen sehr ähneln würde. Demnach sollen Richter nur noch mit einer Regierungsmehrheit ernannt werden, also geht es um einen regierungskonformen Obersten Gerichtshof. Darüber hinaus soll ein Gesetz verabschiedet werden – die Überstimmungsklausel –, mit dem das Parlament Urteile des Obersten Gerichtshofs wieder zurückweisen kann. Die Knesset – das israelische Parlament – könnte demnach mit einer Mehrheit über ein Gerichtsurteil abstimmen und Entscheidungen des Gerichts aufheben, was zu einer Aufweichung der Gewaltenteilung führen würde. Die Regierung hätte nahezu absolute Macht.
Angesichts des Netanjahu-Besuchs sind mehrere Protestdemonstrationen in der Stadtmitte angekündigt. Sie richten sich insbesondere gegen die geplante Justizreform. Die größte Kundgebung ist mit 1000 Teilnehmern am Donnerstag um 15 Uhr am Brandenburger Tor angemeldet, teilte die Polizei mit. Zuvor soll es um 10 Uhr eine Demonstration mit 100 Teilnehmern an der Willy-Brandt-Straße geben und um 13 Uhr eine „Demonstration gegen die Besatzung durch die israelische Regierung“ auf dem Platz der Republik am Reichstagsgebäude.
Polizei in Alarmbereitschaft
Auch die Berliner Polizei ist in erhöhter Alarmbereitschaft – wie immer, wenn die höchste Sicherheitsstufe ausgerufen wird. „An den kommenden Tagen wird so ziemlich alles in den Dienst gerufen, was irgendwie möglich ist“, erklärte Stephan Weh, Berliner Landeschef der Gewerkschaft der Polizei. „Weil wir natürlich damit rechnen müssen, dass dieser Besuch nicht bei jedem in unserer Stadt auf Gegenliebe stößt.“
So haben zum Beispiel um die 1000 israelische Künstler, Schriftsteller und Akademiker in einem Schreiben an die Botschafter Deutschlands und Großbritanniens die Absage der anstehenden Besuche von Regierungschef Benjamin Netanjahu in ihren Ländern gefordert.
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