Netrebko, Olympia: Vorsicht, wenn das Wort Boykott erklingt
Soll Anna Netrebko in Wiesbaden singen? Dürfen russische Sportler bei Olympia starten? Anmerkungen zu den vielen Gesichtern von Boykottaufrufen. Ein Kommentar.

Er brauche ein Fahrzeug mit einem Kühlschrank, zitierte Serhij Zhadan in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels einen ukrainischen Soldaten. Wir finden Leichen, so der Soldat, die schon länger als einen Monat in der Sonne gelegen haben. Man bekomme keine Luft mehr. Wer sich im Raum des Krieges befindet, notierte Zhadan dazu in knapper Diktion, macht keine Zukunftspläne. Er denkt nicht darüber nach, wie die Welt von morgen aussieht.

Schon deshalb ist Innehalten geboten, wenn Menschen, die sich seit einem Jahr in solch einem Kriegsraum befinden, empfindlich auf andere reagieren, die für sie zu Feinden geworden sind. Wer will, wer kann es ukrainischen Künstlern verübeln, wenn sie sich weigern, gemeinsam mit russischen Kollegen auf einer Bühne zu stehen?
Was Puschkin und Dostojewski zu bieten haben
Im Streit um den Auftritt der russischen Opernsängerin Anna Netrebko bei den Wiesbadener Maifestspielen gibt es mindestens zwei nachvollziehbare Haltungen, mit denen sich Protagonisten des Kulturlebens unvereinbar gegenüberstehen. Sicher hat der Wiesbadener Intendant Uwe Eric Laufenberg recht, wenn er auf die Freiheit der Kunst pocht und am Auftritt der weltweit gefeierten Künstlerin festhalten will, die trotz gegenteiliger Beteuerungen in den Augen vieler eine Apologetin des Kriegstreibers Putin ist. Auf ukrainischer Seite haben sich Tod und kriegerische Zerstörung zu tief in die Seele der Einzelnen eingegraben, als dass sich im Vertrauen auf die Kräfte der Kunst bereits wieder an Austausch und Versöhnung denken ließe.
So steht angesichts der Wiesbadener Kabale der Verdacht im Raum, dass der Intendant nicht zuletzt darum bemüht ist, sich im Licht eines pathetischen Eintretens für künstlerische Freiheit zu sonnen und die Schatten zu ignorieren, die es bisweilen erzeugt. Natürlich kann es nicht sein, dass aus Solidarität mit der Ukraine russische Künstler geschmäht und ihre Hervorbringungen pauschal diskreditiert werden. Gerade jetzt können Puschkin, Gogol und Dostojewski hilfreiche Lektüreerlebnisse zur Erkundung menschlicher Abgründe bieten.
Allein mit Phrasen über die verbindende Kraft der Kunst aber wird man in diesem von schweren Verletzungen geprägten Konflikt nicht weiterkommen. Vielmehr bedarf es der Klugheit und Empathie vieler, um sich irgendwann auch emotional aus dem von Serhij Zhadan beschriebenen Kriegsraum herausarbeiten zu können.
Vorsicht also, wenn das Wort Boykott die Szene betritt, es ist nie frei von Aspekten des Zwangs und der Unfreiheit. Vergiftet jedenfalls scheinen Bemühungen um moderate Annäherung, die Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), mit Bemerkungen über einen möglichen Start russischer und belarussischer Sportler bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 ins Spiel gebracht hat.
Er nimmt dabei für sich in Anspruch, für olympische Ideale einzutreten, die seit jeher für ihre friedensstiftende Wirkung gerühmt wurden. Aus dem Mund von Thomas Bach aber klingen die Beschwörungen einer olympischen Neutralität wie zynische Floskeln. Fast über seine komplette Amtszeit als IOC-Präsident hinweg hat Bach sich als treuer Vasall der Interessen machtfixierter Diktatoren erwiesen. Olympia – ein ebenso begehrtes wie willfähriges Ticket zur Stabilisierung von Herrschaft.
Bachs Verbindungen in Putins Welt waren schon schwer zu ertragen, als es lediglich um die systematische Verletzung von Anti-Doping-Regeln durch russische Sportverbände ging. Seit aber Dutzende ukrainische Athleten an der Front und in ihrem angegriffenen Zuhause gestorben sind, klebt Blut an dem Vorschlag des Weitermachens unter der Flagge der Neutralität.
Ein neuer Warschauer Pakt
Das internationale Sportsystem hat sich als gigantische Imagemaschine erwiesen, mit der durch viel Geld und Beharrlichkeit Einflusszonen gewonnen und verschoben werden können. Die menschenfreundliche Geste, die Bach den russischen und belarussischen Sportlern nun offeriert, ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Ukrainer. Sie kann auch als Hinweis für andere Despoten verstanden werden, dass im olympischen Raum vieles erlaubt ist oder ganz anders bewertet wird.
Das Für und Wider eines Olympia-Boykotts wird nicht verstummen. Wer ihm schon jetzt eine neue Note abgewinnen will, findet sie in dem Erstarken der lange überhörten osteuropäischen Länder, insbesondere des Baltikums und Polens. Hier, so scheint es, bahnt sich ein neuer Warschauer Pakt an, dessen Stimme immer dringlicher zu vernehmen ist.