Berlin-In der Mall of Berlin am Leipziger Platz riecht es nach Fritten und Curry. Es gelten Regeln, wie man sich im Einkaufszentrum zu benehmen hat. Die oberste Regel lautet wörtlich: „Bitte appellieren Sie an Ihre eigene Vernunft und halten alle Richtlinien, die Ihnen innerhalb des Centers begegnen ein um sich selbst und ihre Mitmenschen nicht zu gefährden.“ Alle tragen Masken. Es funktioniert.
Wir treffen Sanam Afrashteh und Shirin Soraya. Beide sind Schauspielerinnen. Sanam hat im „Tatort“ mitgewirkt und in zahlreichen anderen hochkarätigen Produktionen. Shirin hat Rollen an mehreren Theatern, spielte bei der Serie „Freundinnen – jetzt erst recht“ mit.
Beide Frauen haben sich an der Aktion „Alles auf den Tisch“ beteiligt: In dieser Aktion stellen Künstlerinnen Fragen an Experten. Mit Gesprächen wollen sie den ins Stocken geratenen Diskurs über die Entwicklung der deutschen Gesellschaft unter pandemischen Vorzeichen wieder in Gang bringen.
„Ich bin hier nie angeeckt“, sagt Sanam Afrashteh. Sie komme aus dem linken, grünen Milieu, hat drei Jahre in einem Flüchtlingsheim als Dolmetscherin gearbeitet. Mit der Pandemie hat sich die Welt um sie herum jedoch verändert. Plötzlich habe sie in Diskussionen gemerkt: „Ich stehe mit meiner Meinung alleine da.“ Mehrfach bekam sie, wenn sie sich kritisch über Corona-Maßnahmen äußerte, zu hören: „Pass auf, du bist im Fahrwasser der AfD.“
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Afrashtehs Eltern kommen beide aus dem Iran. Sie haben sich in Marburg an der Lahn kennengelernt. Sanam ist hier geboren. Sie sagt: „Ich denke und träume deutsch.“ Trotzdem hat sie das Gefühl, nirgends richtig dazuzugehören: In Deutschland werde sie wie eine Ausländerin behandelt, weil sie anders aussehe. Im Iran werde sie als Deutsche gesehen, weil sie anders spreche. In Berlin hingegen fühle sie sich wohl, „denn hier darf ich heimatlos sein – wie so viele“.
Wenn das Private politisch wird
Doch die Heimatlosigkeit ist keine Leere: „Was ich nach meinen ersten Besuchen im Iran zu schätzen gelernt habe, war die bedingungslose Herzenswärme.“ Aber sie habe auch gemerkt, dass es dort eine Kluft zwischen der privaten und der politischen Realität gebe: „Die Leute sind vorsichtig, wenn sie die Regierung kritisieren. Zugleich ist für sie klar: Man darf einer Regierung nicht blind vertrauen.“
Vor diesem Hintergrund ist sie hellhörig, wenn sich in Deutschland Grenzen verschieben, wenn das Private politisch wird. Sanam Afrashteh erzählt von einem Erlebnis ihrer Mutter, die einmal bei der Corona-Hotline angerufen hatte, um sich nach den aktuellen Reisebestimmungen zu erkundigen. Es kam zu einem Gespräch, in dessen Verlauf die Frau am anderen Ende der Leitung zu Sanams Mutter sagte: „Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Leute bei uns anrufen, um andere zu denunzieren. Unterschätzen Sie Ihre Nachbarn nicht!“
Menschen mit Migrationshintergrund spürten die Veränderungen besonders, sagt Sanam Afrashteh. Obwohl sie in Marburg aufgewachsen ist, gab es immer ein gewisses Fremdsein. Wenn sie als Kind mit ihrem Bruder zum Flohmarkt ausrückte, habe sie, die Deutsche, zu ihm gesagt: „Wir müssen uns ganz ordentlich anziehen, damit die Deutschen bei uns auch etwas kaufen.“ Im Jahr 2015 schien es plötzlich eine Wende zu geben. „Es gab plötzlich ein positives Deutschland, mit dem Satz: Wir schaffen das! Ich hatte das Gefühl, jetzt bricht etwas auf, es verändert sich etwas, jetzt kommt eine große Offenheit.“
Heute sei jedoch wieder alles anders, man spüre, dass Minderheiten diskriminiert würden, ohne dass es die Mehrheitsgesellschaft besonders stört. „Die Ausgrenzung gegenüber Nicht-Geimpften ist anders als die rassistische Ausgrenzung. Den Ausländern gesteht man zu, dass sie sich ihre Hautfarbe ja nicht aussuchen können. Den Nicht-Geimpften dagegen sagt man: Lass dich impfen, dann gehörst du wieder dazu.“
Das Klima wird rauer
Auch Shirin Soraya kennt dieses Gefühl des Ausgeschlossen-Seins. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Iraner. Sie stammt aus München, spricht Bayerisch – neben mehreren anderen Fremdsprachen – und sagt: „Es ist seltsam: Obwohl ich hier geboren bin, fühle ich mich nicht rein deutsch. Ich muss immer an meinen Vater denken, dem sein ganzes Leben über immer gesagt wird: Wann gehst du wieder zurück?“ Auch Soraya ist davon überzeugt, dass die Erfahrung mit totalitären Systemen den Zusammenhalt in der Zivilgesellschaft stärken kann. Natürlich könne man Diktaturen nicht mit dem Westen vergleichen. Doch stellt sie fest, dass sich das Alltagsleben in Deutschland stark verändert hat: „Plötzlich muss ich für alles, was ich tue, Vorkehrungen treffen. Daran möchte ich mich nicht gewöhnen.“

Neil Malik Abdullah hat auch bei „Alles auf den Tisch“ mitgemacht. Der über Tirol nach Deutschland gelangte Schauspieler, der aus dem „Tatort“ und den „Pfefferkörnen“ bekannt ist, beobachtet, dass das Klima rauer wird. Seine Eltern kommen aus einem Teil Syriens, der heute zur Türkei gehört. Sie sind Christen. Sein Vater diente in der türkischen Armee. Er hielt es geheim, dass er Christ ist. Seine Mutter durfte nicht in die Schule, weil sie ein Mädchen war. Neil Malik ist seinen Eltern bis heute dankbar, dass sie mit ihm nach Deutschland gingen: „Wann immer ich von einer Reise zurückgekommen bin, war ich glücklich, wieder in Deutschland zu sein.“ Am meisten habe er die Freiheit in Deutschland geschätzt: „Sie ist das Schönste, was wir haben. Uns wurde beigebracht, dass wir in Deutschland wirklich frei leben können.“
Doch mit der Kommunikation zur Pandemie kam für ihn eine Assoziation auf, die überrascht: „Ich bin religiös erzogen worden. In der Religion gibt es immer einen Gott, der dich richtet. Es gibt keine plausible Erklärung, es ist einfach so.“ Bei den Corona-Maßnahmen stört ihn die religiöse Form. Er habe sich umfassend informiert. Maßnahmen, die ihm sinnvoll erscheinen, befolgt er: „Aber ich will nicht, dass mir gesagt wird: Wenn du dies oder jenes tust oder nicht tust, wird Corona dich richten.“
Künstler mit Migrationshintergrund sind weniger konformistisch, sagt Jeana Paraschiva. Die aus Armenien, also aus der damaligen UdSSR, Geflüchtete, ist das „Mastermind“ hinter „Alles auf den Tisch“. Für die Aktion rekrutiert sie Mitwirkende, moderiert und organisiert den Prozess diskret im Hintergrund. Wir sprechen mit der Drehbuchautorin und Regisseurin in einem Hotel in Friedrichshain. Sie ist ruhig und bestimmt. Einmal springt sie während des Gesprächs unvermittelt auf und zieht ein Aufladekabel aus ihrer Reisetasche, um ihr Handy aufzuladen. Sie bittet die Hotel-Mitarbeiterin, den brummenden Kleinkühlschrank abstellen zu dürfen.
Jeana Paraschiva konzentriert sich, überlegt genau, was sie sagt. Ihre Mission ist künstlerisch und politisch. Sie war bereits für „Alles dichtmachen“ aktiv, hat in Frank Castorfs Inszenierung von Henrik Ibsens „Baumeister Solness“ an der Berliner Volksbühne mitgespielt. Sie versteht etwas von der Dynamik einer kollektiven Arbeit. Paraschiva sagt: „Der Antrieb hinter #allesdichtmachen war: Wir lassen uns nicht einschüchtern.“ Sie will die Stimmen der Künstler und jene der Wissenschaftler, mit denen nun ein Dialog begonnen hat, schützen.

Jeana Paraschiva kennt die Gefahr, vereinnahmt zu werden, weil man sich nicht von jenen abgrenzt, die die Corona-Kritik politisch instrumentalisieren. Da seien zum einen „die radikalen Maßnahmen-Kritiker, die alles ablehnen, wie die Gründer von Querdenken um Michael Ballweg“. Und dann gebe es noch „die Profiteure der Krise, wie den Anwalt Reiner Fuellmich mit seinem sogenannten Corona-Ausschuss“: Der sammele „Geld ein von den verunsicherten Menschen und verspricht ihnen Sammelklagen“. Bis jetzt sei jedoch nichts geschehen: „Niemand weiß, wo all die Spenden hin sind.“
„Wir haben Deutschland idealisiert“
Migranten haben einen kritischen Blick, weil sie mit einem positiven Bild von Deutschland hergekommen sind. Jeana Paraschiva sagt: „Meine Familie ist nach Deutschland geflüchtet, weil wir von der Freiheit geträumt haben. Wir haben Deutschland idealisiert.“ Paraschiva kam in den 90er-Jahren in ein Flüchtlingslager bei Flensburg. Sie wollte Teil der deutschen Kultur werden, „so freizügig, so emanzipiert“. Es war ein langer Weg. 20 Jahre war sie staatenlos, versuchte zu verbergen, dass sie, wie sie sagt, Ausländerin war. Natürlich gab es jede Menge guter Ratschläge, etwa von den Nachbarn, die den Zugewanderten zum Beispiel erklärten, wie man das Auto parkt.
Viele deutsche Eigenheiten fallen Jeana Paraschiva heute noch auf. „Neulich wollte ich mit meinen beiden Kindern über die Straße gehen. Da hat ein Auto angehalten. Ich dachte, wie nett, er lässt uns drüber. Doch er hat das Fenster heruntergelassen und gesagt: Da vorne ist der Zebrastreifen, gehen Sie dorthin.“
Doch mit derlei konnte sie gut und gerne leben – bis Corona kam, die Maßnahmen, und sich das Deutschland, von dem sie geträumt hatte, schleichend veränderte. „Der größte Schock für uns war, als wir festgestellt haben: Es gibt immer weniger Freiräume und kaum noch Debatten“, sagt Jeana Paraschiva. Und sie erkannte in der deutschen Gesellschaft etwas, „was wir in dieser Form nur von zu Hause kannten: Alle hatten Angst“. Sie erzählt davon, wie sie zu Beginn der Pandemie mit ihrer Tochter zu einer Untersuchung zum Arzt hätte gehen sollen. Die Ärztin habe sie angerufen gesagt: „Kommen Sie bloß nicht! Wenn jemand das Virus hat, darf er die Praxis nicht betreten, wir müssen sonst zumachen.“ Diese Angst, die Panik habe sie sehr erschrocken.
Ihr fällt auf, dass es Unterschiede zwischen Migranten und Deutschen gegeben hat. „Viele unserer deutschen Freunde haben die Maßnahmen schnell akzeptiert.“ Und: „Bei den meisten Migranten gibt es keine Spaltung in den Familien, anders als bei den deutschen Familien.“ Geflüchtete seien für Grundrechtseinschränkungen besonders sensibel. „Es gab eine Rückkopplung, die sagte uns: Das kenne ich doch von irgendwo her“, erzählt Paraschiva. In der UdSSR, in der Türkei oder im Iran habe das Prinzip geherrscht, dass die Bürger dem Staat immer ihre Unschuld beweisen mussten. Doch dieses Konzept habe eine fatale Konsequenz: „Wenn der Staat den Bürgern nicht vertraut, verlieren auch die Bürger das Vertrauen in den Staat.“
Eine Verschiebung stellt Jeana Paraschiva auch in der Sprache fest – also jenem Werkzeug, das gemeinhin als Gradmesser für eine gelungene Integration gilt. Paraschiva, die Deutsch erst mit zwölf Jahren gelernt hat, spricht makellos und druckreif, und zwar ganz ohne Skript. Sie habe Deutsch mit Freude gelernt: „Deutschland – das war für mich ein Durchatmen. Das lag auch an der Sprache. Ich liebe die deutsche Sprache für ihre Präzision.“
Im Verlauf der Pandemie ist ihr aufgefallen, dass die Sprach-Profis auf einmal andere Begriffe verwendeten – vor allem die Medien, um „Andersdenkende zu diffamieren“. „Wir haben Veränderung in der Sprache festgestellt. Wir hatten ein anderes Deutsch gelernt. Da gab es das Wort ,Schwurbler‘ nicht. Plötzlich wurde die Sprache anders. Es gab Begriffe wie ,social distancing‘. Als sich die Sprache geändert hat, wussten wir, dass da etwas passiert.“ Wörter bedeuteten plötzlich das Gegenteil dessen, was sie auf den ersten Blick sagen sollten.

Und noch etwa fiel ihr auf, was sie aus ihrem Herkunftsland kannte und was sie sehr besorgte: „Das Schlimmste war, dass Kritiker plötzlich verspottet wurden. Es gab Häme und Diffamierungen, wie wir sie vorher in diesem Land für unmöglich gehalten haben.“ Paraschiva sieht Parallelen zu den Ostdeutschen, die ja im Zuge der Maßnahmen-Kritik auch deutlich aktiver erschienen als die Westdeutschen. Auch die Ostler waren dem Sternenbanner der Freiheit gefolgt und reagieren nun empfindlich, wenn sie Muster wiedererkennen, die sie nicht haben wollen.
Jeana Paraschiva ist der Auffassung, dass Menschen aus migrantischen Milieus in Deutschland Selbstbewusstsein zeigen sollten: „Wir Geflüchteten, die wir uns integriert haben, wir wollen unsere Meinung sagen. Denn Deutschland ist heute anders, also muss auch der Diskurs anders werden. Niemand von uns ist hergekommen, um Untertan zu werden.“