Nobelpreisträger CCL: „Wir gehen von Tausenden Vergewaltigungen aus“

Das Center for Civil Liberties hat bisher 33.000 Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentiert. Oleksandra Romantsova erklärt, wie die Organisation arbeitet.

Oleksandra Romantsova, Geschäftsführerin des Center for Civil Liberties.
Oleksandra Romantsova, Geschäftsführerin des Center for Civil Liberties.privat

Die ukrainische Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties erhielt im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis. Geschäftsführerin Oleksandra Romantsova schildert, wie die Organisation Kriegsverbrechen aufklärt und auch der eigenen Regierung auf die Finger schaut.

Frau Romantsova, wie haben Sie von der Entscheidung aus Oslo erfahren, dass Ihre Organisation den Friedensnobelpreis erhält, und was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?

Sie haben angerufen, als ich mit unserer Vorsitzenden Oleksandra Matwijtschuk gerade in Warschau war. Ich war total perplex und habe unserer Vorsitzenden gesagt: Lesia, wir bekommen den Friedensnobelpreis! Eine solche Nachricht kann man im ersten Moment gar nicht verarbeiten. Später an diesem Tag saßen wir im Zug nach Kiew. Da saß auch ein Reporter des Spiegel. Er hat mitbekommen, worüber wir sprechen, und so ist die Nachricht weltweit bekannt geworden.

Wie hat sich Ihre Arbeit durch den Friedensnobelpreis verändert?

Es ist viel leichter, Zugang zu bekommen zu Politikern. Unsere Botschaft ist seit acht Jahren aber die gleiche. Russland zerstört unser Land, weil es einem Mythos nationaler Größe anhängt. Es kann diese Größe nicht durch wirtschaftlichen oder technologischen Erfolg zeigen. Also vergrößern die Russen ihr Territorium und üben Gewalt aus. Wir haben das in Moldau, Georgien, Syrien, Mali und im Donbass gesehen. Dann in der ganzen Ukraine. Aber damit wird es nicht aufhören.

Nicht allen in der Ukraine hat es gefallen, dass Sie den Preis an der Seite der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und dem belarussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki angenommen haben. War eine Ablehnung aus diesem Grund für Sie eine Option?

Nein, es ist das erste Mal, dass ein Nobelpreis an eine ukrainische Organisation geht. Wir haben Meinungsfreiheit in der Ukraine. Es ist in Ordnung, wenn wir kritisiert werden. Ich glaube, dass manche sich mit Memorial und Herrn Bjaljazki gar nicht beschäftigt haben, sondern einfach müde waren, schon wieder vom Ausland in einem Atemzug mit Belarus und Russland genannt zu werden. Dafür habe ich Verständnis. Eine solche Sicht spiegelt das russische Narrativ wider, dass Ukrainer und Belarussen irgendwie Russen seien. Das ist für uns inakzeptabel. Mit Memorial haben wir nach dem Ausbruch 2014 im Donbass aber bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen zusammengearbeitet. Das haben wir unseren Kritikern erklärt.

Das vergangene Jahr brachte für Ihre Organisation eine große Ehre, vor allem aber schreckliche neue Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufklärung von Kriegsverbrechen im ganzen Land. Wie belastend ist das?

Fälle von Folter oder sexueller Gewalt leiten wir an die Staatsanwaltschaft weiter. Es wird ohnehin nur ein Bruchteil der Vergewaltigungen gemeldet. Ukrainer reden inzwischen über alles, aber sexuelle Übergriffe sind immer noch ein Tabu. Wir gehen von Tausenden Vergewaltigungen aus. Die Dunkelziffer ist enorm hoch. Es ist auch schwer, die Zahl der nach Russland entführten Kinder zu bestimmen. Russland kooperiert nicht mit uns. Wir bekommen höchstens auf Schleichwegen an Informationen heran.

Die Organisation
Ukrainische Menschenrechtsaktivisten gründeten das Center for Civil Liberties (CCL) 2007 in Kiew. Das CCL erlangte während der Maidan-Revolution Ende 2013 und zu Beginn 2014 internationale Bekanntheit. Es initiierte die Initiative Euromaidan SOS und dokumentierte Gewalt der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten. Nach den Schüssen auf dem Maidanplatz in Kiew mit über 100 Toten nach dem 18. Februar widmete sich die Organisation der Aufklärung der Verbrechen. Die Organisation bemühte sich mit einer internationalen Kampagne um die Freilassung des in Russland 2014 festgenommenen ukrainischen Filmemachers Oleg Senzov und sammelte Belege für Kriegsverbrechen im Donbass. Nach dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 weitete das CCL diese Arbeit auf das ganze Land aus. Sie erhielt dafür im Oktober gemeinsam mit der russischen Organisation Memorial und dem belarussischen Menschenrechtler Ales Bjaljazki im Oktober 2022 den Friedensnobelpreis.

Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit vor?

Wir schicken Aufklärungsteams in die befreiten Gebiete. Informationen aus den besetzen Regionen müssen aus drei Quellen kommen, um als verifiziert zu gelten. Wir haben zum Beispiel die Zahl der zerstörten Kliniken bestimmt. Angriffe auf medizinische Infrastruktur sind Kriegsverbrechen. Insgesamt konnten wir bisher 33.000 Kriegsverbrechen dokumentieren.

Untersuchen Sie auch mögliche ukrainische Kriegsverbrechen?

Wir beschäftigen uns mit den Verstößen, egal, von welcher Seite sie begangen werden. Für professionelle Menschenrechtsorganisation zählt nur die Einhaltung der Standards, nicht die Frage, wer gegen sie verstößt.

In der Ukraine herrscht Kriegsrecht. Behindert Sie das in Ihrer Arbeit?

Ehrlich gesagt, nein. Es gibt von staatlicher Seite manchmal den Hinweis auf die nationale Sicherheit, wenn wir dabei sind, Informationen zu beschaffen. Aber auch bei der Pressefreiheit sehe ich eher Bereitschaft von Journalisten zur Selbstzensur als Druck auf die Medien. Unsere Haltung ist, dass wir bei der Einhaltung von Menschenrechten immer kritisch sein müssen. Das ist unsere Aufgabe.

„Wir schulden es den Opfern, dass ihr Leid bekannt wird“

Viele russische Kriegsverbrecher sind in Russland sicher vor ukrainischen oder internationalen Strafverfolgern. Welchen Sinn hat Ihre Arbeit, wenn die Täter sich vielleicht niemals vor Gericht verantworten müssen?

Niemand hat eine Kristallkugel und kann mit Sicherheit sagen, dass es eines Tages nicht doch einen Regimewechsel in Russland gibt. Aber es geht gar nicht um die Täter. Die Aufklärung von Kriegsverbrechen ist ein Zweck in sich. Wir schulden es den Opfern, dass ihr Leid bekannt wird.

Glauben Sie daran, dass Wladimir Putin eines Tages vor Gericht stehen wird?

Sollte das geschehen, dann müsste der russische Präsident wie bei den Prozessen in Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg auch wegen des Verbrechens des Angriffskriegs angeklagt werden. Wir arbeiten daran, dass dieses Verbrechen weltweit in einer institutionellen Art und Weise geahndet wird. Gerade für Russland selbst wäre eine Aufarbeitung von Verbrechen in der Ukraine wichtig. Es wurde versäumt, die sowjetischen Menschheitsverbrechen aufzuarbeiten. So konnte es keinen Wandel geben. Auch deshalb steht Russland heute in der Ukraine und kann morgen ein weiteres europäisches Land überfallen.

Was haben Sie sich sonst noch für dieses Jahr vorgenommen?

Wir wollen eine internationale Organisation gründen, die sich um die Opfer von Angriffskriegen kümmert. Außerdem kämpfen wir in einer Kampagne darum, dass Staaten wie Russland die Möglichkeit genommen wird, durch ein Veto die UN und andere internationale Organisationen zu lähmen. Wir werden außerdem den Beitrittsprozess der Ukraine in die EU kritisch begleiten. Es darf keine kosmetischen Veränderungen geben. Alle Reformen müssen den Standards der EU genügen.

Das Gespräch führte Cedric Rehman.