Nur noch 630 Abgeordnete: Was Sie über das neue Wahlrecht wissen müssen

Der Bundestag verabschiedet am Freitag das neue Wahlrecht, das das Parlament deutlich verkleinern soll. Vor allem Linke und CSU laufen Sturm dagegen.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Donnerstag bei seiner Rede im Plenum des Bundestages.  
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Donnerstag bei seiner Rede im Plenum des Bundestages. imago

Die Verhandlungen mit der Union sind gescheitert, nun verabschiedet die Ampel-Koalition mit eigener Mehrheit das neue Wahlrecht. Es sieht vor, dass künftig nur noch 630 Abgeordnete im Plenum sitzen, mehr als 100 weniger als jetzt. Heiß umstritten ist, dass die Bedeutung der Direktmandate zugunsten der Zweitstimme geschwächt wird. Das letzte Wort zur Reform wird also mal wieder das Bundesverfassungsgericht haben. Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zur Novelle.

Warum wird das Wahlrecht neu geregelt?

Mit 736 Abgeordneten ist der Bundestag so groß wie nie zuvor. Damit hat die Bundesrepublik in Europa das größte Parlament. Wahlforscher sagen, dass jeder Abgeordnete pro Legislaturperiode rund 3 Millionen Euro kostet. Nimmt man die Richtgröße des Bundestags von 598 Abgeordneten, kann man sagen, dass die Steuerzahler rund 400 Millionen Euro draufzahlen – für ein Parlament, das durch seine schiere Größe mittlerweile auch in seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt ist.

Die Ausschüsse werden immer größer, die Themenbereiche aber immer kleinteiliger geschnitten – denn für jeden Abgeordneten muss eine Aufgabe her. Das verlängert dann zwar die Diskussionen, macht die Ergebnisse aber nicht besser.

Weshalb wird der Bundestag immer größer?

Das Gesetz sieht mit der Zahl 598 zwar eine Richtgröße für die Zahl der Bundestagsabgeordneten vor, es gibt aber keine Obergrenze. Dass in den vergangenen Jahren immer mehr Abgeordnetensessel im Plenum montiert werden mussten, liegt am speziellen deutschen Wahlsystem, das eine Mischung aus Mehrheitswahl und Verhältniswahl ist. Das hat bei den vergangenen Wahlen viele Überhangmandate produziert, die wiederum Ausgleichsmandate nötig machten.

Wie entstehen Ausgleichs- und Überhangmandate?

Der Bundestag wird mit zwei Stimmen gewählt: Die Erststimme gilt den Direktkandidaten im jeweiligen Wahlkreis. Deutschlandweit gibt es 299 Wahlkreise. Dort ist die Person gewählt, die die Stimmen hat. Die Stimmen für die Unterlegenen verfallen. Anders ist das bei der Zweitstimme. Damit wählt man die Parteien und deren Landeslisten. So wird ermittelt, wie viele Sitze welche Partei im Parlament bekommt. Es ziehen also Direktkandidaten und Listenkandidaten in den Bundestag ein.

Wo ist das Problem bei den Zusatz-Mandaten?

Nach bisherigem Wahlrecht ist es so, dass jeder Direktkandidat, der seinen Wahlkreis gewonnen hat, automatisch in den Bundestag einzieht. Wenn eine Partei aber mehr Direktkandidaten durchbringt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, entsteht eine Schieflage. Das ist etwa bei der CSU der Fall. Sie hat in Bayern 45 der 46 Wahlkreise gewonnen.

Nach dem Zweitstimmenergebnis stünden ihr aber nur 34 Sitze im Bundestag zu. Die CDU hat also elf Überhangmandate. Die anderen Fraktionen bekommen daher Ausgleichsmandate, damit das Zweitstimmenergebnis im Parlament korrekt abgebildet wird. Die Ausgleichsmandate stehen allen anderen Fraktionen zu und davon gibt es im Bundestag mittlerweile sechs: Außer CDU/CSU noch SPD, Grüne, FDP, Linke und AfD. Es summiert sich also.

Wie sieht die Lösung aus?

Die Ampel hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem der Bundestag künftig eine feste Zahl von 630 Abgeordneten haben wird. Es gibt außerdem einen klaren Fokus auf das Verhältniswahlrecht: Die Zweitstimme heißt demnächst Hauptstimme. Mit diesem Ergebnis wird ermittelt, wie viele Sitze im Parlament der jeweiligen Partei zustehen.

Der Gewinner in einem Wahlkreis zieht nur dann in den Bundestag ein, wenn seine Partei auch ausreichend Zweitstimmen hat. Zweitstimmendeckung nennt sich dieses Prinzip. Konkret bedeutet das, dass die Wahlkreissieger mit dem schwächsten Ergebnis leer ausgehen.

Ist das nicht ungerecht?

Wie man es nimmt. Betrachtet man sich die Ergebnisse der Direktwahlkandidaten der vergangenen Jahre, so stellt man fest, dass sie mit immer weniger Stimmen gewählt werden. Kaum einer oder eine kann 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. In Dresden hat ein CDU-Kandidat seinen Wahlkreis mit rund 18 Prozent der Stimmen gewonnen. Das bedeutet, dass mehr als 80 Prozent ihn nicht gewählt haben. Wie gerecht ist dieses Ergebnis?

Warum wird nun auch über die Grundmandatsklausel gesprochen?

Die Grundmandatsklausel besagt, dass auch Parteien bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt werden, die nicht die Fünf-Prozent-Hürde überwunden, aber mindestens drei Direktmandate erworben haben. Diese Regelung soll komplett gestrichen werden. Juristisch ist sie in der Tat eine logische Schwachstelle, da im neuen Gesetz der Zweitstimme Vorrang eingeräumt wird. Politisch ist die Entscheidung in letzter Minute fragwürdig.

Wen betrifft der Wegfall der Grundmandatsklausel?

Grundsätzlich alle kleinen Parteien, aber besonders die Linke und die CDU. Legt man das Wahlergebnis von 2021 zugrunde, würde es für Die Linke das Aus im Bundestag bedeuten. Allerdings könnte auch die CSU künftig leer ausgehen. Sie hatte 2021 ein Ergebnis von bundesweit gerade 5,2 Prozent. Bizarr: Auf den logischen Fehler, den die Grundmandatsklausel in einem Wahlrecht mit Vorrang für die Zweitstimme bietet, sollen CDU-Politiker die Ampel-Verhandler hingewiesen haben.

Würde das bedeuten, dass die CSU in Bayern fast alle Direktmandate gewinnt – und trotzdem nicht in den Bundestag einzieht?

Ja, und zwar dann, wenn sie bei den Zweitstimmen unter fünf Prozent rutscht. Natürlich macht die CSU deswegen besonders Front gegen das neue Wahlrecht. Man könnte aber auch argumentieren, dass sie als bayerische Regionalpartei vom bisherigen Wahlrecht besondere Vorteile hatte.

Wäre es nicht besser gewesen, wenn sich alle Parteien bei einem derart wichtigen Thema geeinigt hätten?

Das hat eine Kommission in der vergangenen Wahlperiode versucht. Doch alle Bemühungen sind gescheitert, letztlich vor allem am Fundamentalwiderstand der CSU. Die große Koalition hatte sich daher auf einen Minimalkonsens geeinigt, bei dem die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 beschloss, was allerdings erst bei der Wahl 2025 wirksam werden sollte. Außerdem sollten bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Experten bescheinigten der Mini-Reform wenig Wirksamkeit.

Wie geht es weiter?

Wie immer. Das Wahlgesetz wird verabschiedet und die Opposition wird dagegen vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Die Klage von Grünen, FDP und Die Linke gegen das Wahlgesetz der großen Koalition ist übrigens noch nicht entschieden.