Oktoberfest München: Sexuelle Übergriffe gehören zum Wiesnalltag

Dreißig Minuten vor Schichtbeginn. Mitarbeiterbesprechung. Die meisten der Studentinnen haben keine langjährige Erfahrung, aber ein dreitägiges Seminar absolviert. Sie lernen, wie sie bei einem Vergewaltigungsfall vorgehen und wie sie bei Krisen intervenieren können. Teil der Diskussion sind auch Nachbesprechungen von Fällen, die den Ehrenamtlichen nahegehen. Außerdem wird geklärt, wie sie selbst nach der Arbeit heimkommen. „Wir müssen nicht nur unsere Klientinnen sicher nach Hause bringen, sondern auch uns selbst“, sagt Gottlöber. Die Frauen gehen zu zweit zur U-Bahn, „bis man den Irrsinn mal verlassen hat“, oder sie fahren sich gegenseitig mit dem Auto. Kristina Gottlöber selbst fährt Fahrrad. „Da kann ich schneller an verwirrten Wiesnbesuchern vorbeidüsen.“

Nackt und besoffen

Schafft so eine Sensibilisierung nicht auch Angst? „Wir haben alle Selbstverteidigung gelernt“, sagt sie. Auch das ist Teil der Vorbereitung auf die Arbeit. Bretter durchschlagen, sich wehren bei einem Angriff. Da fühlt man sich stark und ermächtigt. „Ich hatte richtig Panik vor diesem Brett, aber als ich es durch hatte, dachte ich: Scheißegal, wer jetzt kommt, ich kann jeden niederschlagen!“ Ein gutes Gefühl.

Du warst als Soldatin in Afghanistan. Hast viele Dinge getan, auf die du nicht stolz bist. Aber jetzt bist du im Urlaub. Du fährst Karussell, schaust zu, wie Besoffene aus dem Teufelsrad geschleudert werden. Dein Kollege möchte mit dir zum Schießstand. Lichter, Schüsse. Flashback. Du sagst: Ich muss dieses Kind töten. Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmt. Das Trauma, es ist wieder da.

Neben den schweren sexuellen Übergriffen sind solche Fälle besonders dramatisch für Gottlöber und ihre Kolleginnen. In den letzten Jahren kamen immer wieder US-Soldatinnen, deren Traumatisierung durch das Oktoberfest wieder neu ausgelöst wurde. Es kommt zum Flashback, die Betreuerinnen versuchen dann, die Betroffenen durch Übungen wieder in die Gegenwart zurückzuholen: „Da sind wir massiv gefordert, weil wir denen auch sehr wenig anbieten können.“ Die Soldatin wollte keine Hilfe annehmen, sondern sofort wieder weg. Obwohl, sagt Kristina Gottlöber, sie hier vielleicht das erste Mal gemerkt habe: Egal, was ich getan habe, ich bekomme Hilfe. Auch solche Fälle könnten den Mitarbeiterinnen nachhängen. Man frage sich, was aus der Frau wird und hoffe, „dass sie das Gefühl mit nach Hause nimmt und sich dort Unterstützung sucht“.

Gottlöber sagt, sie würde lieber in einer Welt leben, in der ihre Hilfe nicht mehr gebraucht wird. Wo Frauen nackt und völlig besoffen über die Wiesn laufen und ihnen nichts passiert. So sollte es sein. Anfangs wurde das Team belächelt. Wozu braucht man das, man hat doch die Polizei! Die besoffenen Weiber sind doch selbst schuld! Das Münchner Oktoberfest ist alkoholgeschwängerter Ausnahmezustand, so ist das halt, wer darauf keinen Bock hat, soll zu Hause bleiben. Es passiert viel, und nicht alles lässt sich vermeiden. So lange das so ist, wird Gottlöber weiter vor Ort sein und helfen.

Später in der Nacht wird eine Touristin mit schlimmen Knochenbrüchen ins Krankenhaus gebracht werden. Ein Fremder wird mit einem Maßkrug auf ihr Gesicht eingeschlagen haben. Noch ist es ruhig. Kristina Gottlöbers erste Schicht beginnt.

* Die nacherzählten Fälle beruhen auf Polizeiberichten und Gesprächsprotokollen der Aktion „Sichere Wiesn“.