Osman Demir, 28, türkischer Kurde in Berlin: „Es ist sehr schwer, so zu leben“

Aus der Verfolgung in den Flugzeughangar: ein Leben zu viert auf 12 Quadratmetern. Ein Besuch im Ex-Flughafen Tempelhof anlässlich des Flüchtlingsgipfels.

Im Hangar in Tempelhof
Im Hangar in TempelhofVolkmar Otto

Zum Rollerfahren eigenen sich Flugzeughangars. Der Boden ist so schön glatt. Ein Mädchen, einen kleinen Jungen vor sich auf dem Brett, gibt ihrem Gefährt ordentlich Schwung. An einer Containerwand sitzt ein anderer Junge mit einem Mobiltelefon. Ein kleines Kind schiebt ein Feuerwehrauto auf dem Fußboden vor sich her.

Zwischen Dutzenden Baustellencontainern inmitten einer der riesigen Flugzeuggaragen im Gebäude des ehemaligen Flughafens Tempelhof wirken die spielenden Kinder deplatziert. Aber nicht nur sie. Container stehen hier in Reih und Glied, darin sitzen Menschen. Man sieht sie im Vorübergehen durch ein Fenster, wie sie sich unterhalten oder die Zeit totschlagen. Die ganze Szenerie hat etwas Surreales.

Noch viel seltsamer muss es sich aber anfühlen, dort auch zu schlafen, zu essen, sein ganz normales Leben zu führen. Privatsphäre gibt es nicht. Allein ist man hier nirgendwo – nicht mal auf dem Klo.

Aber so ist es jetzt für 800 Menschen Tag für Tag. Sie wohnen im Gebäude des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Zwölf Quadratmeter hat Osman Demir, 28 Jahre alt, ein Kurde aus der Türkei, dort zur Verfügung. Er teilt sie sich mit drei anderen Männern. Vier Betten, je zwei übereinander, zwei Stühle, das war’s.

Nachts schläft Osman Demir schlecht. Tagsüber ist er dann müde und muss die anderen bitten, leise zu sein. „Es ist sehr schwer, so zu leben“, sagt Demir. Aber er ist trotzdem froh, da zu sein. Zu Hause in der Türkei fühlte er sich bedroht. „Ich konnte dort nicht bleiben“, sagt er. Er entschloss sich zur Flucht. Seit Weihnachten ist er in Berlin. Er hat Asyl beantragt.

Osman Demir ist Mitglied der linken türkischen Partei HDP. „Ich war sehr aktiv“, erzählt er über seine Zeit in Istanbul. Er nahm an Demonstrationen teil und organisierte sie auch. Für das Gespräch sind wir in einen etwas abgelegenen ruhigen Raum gegangen, in dem Sanitätsmaterial aufbewahrt wird.

Dort schildert Demir, wie das Haus seiner Familie in der Türkei beschossen wurde. Wie Polizisten in Zivil ihn bei zufälligen Kontrollen drangsaliert haben. Wie er sich ängstigte, wenn er auf dem Nachhauseweg immer wieder mal gestellt wurde. Was es heißt, wenn man vermuten muss, dass sich im Bekanntenkreis versteckte Zuträger des Geheimdienstes verbergen, man aber nicht weiß, wer es ist. Wie man sich dabei fühlt: unsicher.

Hier in Tempelhof ist Osman Demir nur ein Mann im karierten Woll-Hemd, er trägt ein bisschen Bart, wirkt sehr jung. Wie die Spiele der Kinder wirken auch seine Schilderungen seltsam unwirklich. Die Angst, verhaftet zu werden, der drohende Pass-Entzug – das alles ist in Tempelhof sehr weit weg. Und doch sind es viele hier, die solche Geschichten zu erzählen haben.

Türken sind die größte Gruppe bei den Asylbewerbern

Türken sind erstaunlicherweise gerade die größte Gruppe unter den Menschen, die nach Berlin fliehen. So teilt es auf Nachfrage das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten mit. Spricht man mit einzelnen, erzählen sie von politischer Verfolgung durch das Regime von Recep Tayyip Erdogan. Es sind Kurden, Aktivisten und Oppositionspolitiker sowie Anhänger der Hizmet-Bewegung, die Erdogans Erzfeind Fethullah Gülen aufbaute. Dass der Verfolgungsdruck in der Türkei immer noch hoch ist, gerät in Zeiten des Ukraine-Kriegs gerade in den Hintergrund. Das heißt allerdings nicht, dass es ihn nicht mehr gibt. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein.

Berlin sieht sich gerade wieder einmal mit einem enormen Zustrom konfrontiert. 100.000 Menschen mussten im vergangenen Jahr registriert, versorgt und untergebracht werden. Die meisten sind Ukrainer. Aber es sind auch ein Drittel mehr Asylsuchende gekommen – fast 22.000. Die Verwaltung spricht von Rekordzahlen und stöhnt wie in vielen anderen Bundesländern unter der Last der Aufgabe: eine Million Ukrainer, knapp 250.000 Asylsuchende deutschlandweit.

Man fühlt sich ein wenig ins Jahr 2016 zurückversetzt, wenn auch die Zahlen weit unter den damaligen Spitzenwerten bleiben. Und es gibt noch mehr Unterschiede: Den neuen Rekordzahlen steht diesmal ein Rekordtempo gegenüber. In kurzer Zeit ist in Tegel ein neues Ankunfts- und Verteilzentrum entstanden. Leichtbauhallen, Modulbauten, stillgelegte Wohncontaineranlagen wurden im ganzen Stadtgebiet reaktiviert. Gebäude sind angemietet und andere dichter belegt worden. Hostels und Hotels werden wieder zur Unterbringung genutzt. Und eben auch die Hangars in Tempelhof. Zum Jahresende ist dort wieder eine Großunterkunft in Betrieb gegangen – innerhalb von 16 Tagen.

Der Windeseile steht aber auch jetzt – so ähnlich wie früher – wieder mal zu wenig Substanz und Planung gegenüber. Es sei kein Wunder, dass die Kommunen stöhnen und vom Bund mehr Unterstützung verlangen, sagt Peter Hermanns vom Internationalen Bund, während er in Tempelhof durch die Halle läuft. Sie hätten einfach zu lange geschlafen und den neuen Ansturm verpennt.

Ganz unabhängig davon wird aber auf jeden Fall mehr Geld gebraucht. Vor allem darum wird es am Donnerstag beim Flüchtlingsgipfel bei der Bundesinnenministerin gehen – um Geld auch für Kitaplätze, Lehrer, mehr Wohnungen.

Es ist nicht die vollkommene Überforderung wie in den Jahren 2015 und 2016, die jetzt an Orten wie in Tempelhof zu besichtigen ist. Alles wirkt gut organisiert. Die Reihen der Container im Hangar strahlen etwas Diszipliniertes aus. Die Wachleute wirken freundlich und angenehm zurückhaltend. Es gibt eine Kantine und eine Art Lagezentrum. Mittlerweile sind überall Profis am Werk, in den Behörden wie bei den Trägern der Einrichtungen. In Tempelhof ist das der Internationale Bund.

Spricht man aber mit Menschen wie Peter Hermanns, der viele Jahre ein Übergangswohnheim für Geflüchtete in Köpenick geleitet hat, hört man, es sei wieder mal alles zu spät passiert. Die Politik habe zu spät auf die steigenden Zahlen und den Ukraine-Krieg reagiert. Im Ankunftszentrum hätten Menschen auf dem Boden schlafen müssen und noch im vergangenen Jahr seien Einrichtungen geschlossen worden.

In der Folge ist es jetzt eng für die Betroffenen. Wie wenig Platz die Menschen für sich zur Verfügung haben, darüber ärgert sich Hermanns gerade am meisten. „Wie im Käfig“, sagt er. Zwölf Quadratmeter für vier Erwachsene. In Köpenick konnte er 15 Quadratmeter für zwei bieten. Es dauere auch alles zu lange, kein Plan, kein Personal. Man hätte früher etwas tun können, findet er.

Osman Demir hatte in Istanbul, wo er zuletzt mit seinen Eltern gelebt hat, 120 Quadratmeter zur Verfügung. Er fühlte sich reich. Demir hat Wirtschaft studiert und einen Bachelor-Abschluss. Ob der in Deutschland anerkannt werden wird, weiß er noch nicht. Peter Hermanns wird ihn beraten.

Deutschland ist für Osman Demir zurzeit noch ein Land mit vielen Rätseln und einer komplizierten Sprache. Er stammt ursprünglich aus Sirnak, einer Stadt in Südostanatolien, in der es immer wieder zu Kämpfen zwischen der türkischen Polizei, dem Militär und der PKK gekommen ist. Ganze Stadtviertel sind mittlerweile verschwunden, weil die Häuser bei Kämpfen beschädigt wurden. Demirs Familie musste ihr Haus aufgeben. So erzählt er.

Gewalt, Verhaftungen, Drohungen durch Polizisten in der Türkei

Den Entschluss, sein Land zu verlassen, traf er, als der Druck immer größer wurde. Polizisten hätten damit gedroht, ihm Arme und Beine zu brechen. Freunde seien gefoltert worden. Es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Demir wurde bei der Polizei angezeigt. Es wurde gefährlicher. „Für eine Verhaftung braucht die Regierung in der Türkei keinen Grund“, sagt Demir. Es reiche aus, Kurde zu sein oder bei der HDP. Osman Demir ist beides. Wer verhaftet wird, verliert seinen Pass. Osman Demir stieg in ein Flugzeug nach Bosnien und dann, einen Monat später, in einen Lastwagen nach Deutschland.

Der junge Mann hat Verwandte in Berlin. Theoretisch, wenn sie Platz hätten, könnte er auch bei ihnen wohnen. Den Zwang für Asylbewerber, in einem Wohnheim zu wohnen, gibt es nicht mehr. Nur das Bundesland können sie sich nicht aussuchen.

Was das Arbeiten angeht, sind die Vorschriften noch immer streng. Deutsch müssen die Zuziehenden können – mindestens Sprachniveau B1. So weit ist Demir noch lange nicht. An seiner Seite sitzt in Tempelhof deshalb Taksin Akdemir, 29 Jahre alt und ebenfalls türkischer Kurde, und übersetzt Demirs Worte.

Akdemir ist seit 2019 in Deutschland. Auch er hat eine Fluchtgeschichte. Er ist im Hangar als Sozialbetreuer beschäftigt. „Die Arbeit gefällt mir“, sagt er. In der Türkei hat er an einer Grundschule gearbeitet und behinderte Kinder betreut. Die Schule gehörte zur Gülen-Bewegung. Die Organisation besteht aus einem Netzwerk von Erziehungseinrichtungen mit über 200 Schulen weltweit und investiert in Medienarbeit, Finanzen und Krankenhäuser. Die türkische Regierung beschuldigt die Bewegung, für den Putschversuch 2016 verantwortlich zu sein.

Taksin Akdemir geriet unter Verdacht. Auch er erzählt von Verfolgung. Freunde und Verwandte seien verhaftet worden. Man müsse das Land verlassen, bevor einem so etwas passiere, sagt er. Und dann spricht er von einem Gerichtsprozess, der in der Türkei noch gegen ihn laufe. „Die Strafandrohung liegt bei sieben bis 20 Jahren Haft“, sagt er. Er hat in Deutschland Asyl bekommen.

Flüchtlingsgipfel mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Und trotzdem fühlt sich das Land an vielen Stellen gerade überfordert. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) trifft sich am Donnerstag mit den kommunalen Spitzenverbänden und den zuständigen Landesministerinnen und Landesministern, um über die aktuelle Flüchtlingssituation zu beraten. Es sind Mitarbeiter aus dem Bundesbau-, dem Bundesfinanzministerium und der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben dabei sowie die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Gemeinsames Handeln soll verabredet werden.

Gleichzeitig lässt sich auf europäischer Ebene beobachten, wie der Kontinent sich einmauert, um die Flüchtlingszahlen runterzubringen. Entsprechende Beschlüsse wurden mit den Stimmen von Regierungen mit starken rechten Parteien in der vergangenen Woche getroffen. Aber auch schon vorher war ein Trend zu sehen: Nationen versuchen, mit Zäunen, Push Backs und sogar Entführungen ihr Territorium von Flüchtlingen freizuhalten.

Für Osman Demir und alle, die bereits im Land sind, spielt das jetzt erst mal keine Rolle mehr. Seine Zukunft hängt am Asylverfahren. „Aber wer weiß schon, wie das ausgeht. Wenn ich zurück muss, darf man mich an der Grenze jedenfalls nicht als Flüchtling erkennen“, sagt er. Sein Gesicht zeigen wir zu seinem Schutz deshalb auf dem Foto nicht.