Anfang des Jahres fühlte ich mich auf einmal erschöpft. Wie viele andere in diesen Wochen war ich coronapositiv, was – geimpft und geboostert – aber nicht viel mehr als eine Grippe bedeutete. Da ich endlich Zeit dafür hatte, las ich ein Buch, das ich schon lange hatte lesen wollen: „Der Tod“ von Vladimir Jankélévitch. „Sterben heißt“, schreibt der französische Philosoph in seiner wundersam altmodischen Sprache, „das Seiende stürzt auf einmal durch die Falltür des Nichtseins.“
In meinem neuen Stück „Grief and Beauty“ begeht eine Frau Suizid, jeden Abend „live on stage“, wie die New York Times in ihrer Premierenbesprechung schrieb. Die Plötzlichkeit des Todes, wenn auch nur auf Video, hat etwas völlig Überraschendes. Gerade noch redet die Frau, aber von einer Sekunde zur anderen wirkt das Gift, das sie sich hat injizieren lassen. Ihr Geist stürzt ins Nichts, während ihr Körper noch einige Sekunden weiter funktioniert. Dann wird es still.
Meistgelesene Artikel
„Die Falltür des Nichtseins“, auf sie gehen wir alle zu. Der Tod ist die radikalste Tragödie, sicher die demokratischste.
Es gibt keine Ideologie, keine Kultur, keine Spezies und kein historisches oder Erdzeitalter – es gibt keinen Ort, an dem der Tod nicht gilt. Und trotzdem – darum geht es in Jankélévitchs Buch – ist es nie gelungen, den Tod zu denken. Alle religiösen oder politischen Versuche haben sich als läppisch erwiesen. „Sein Grab erobern“, wie der griechische Tragiker Aischylos es forderte, bedeutet letztlich die Behauptung der Unsterblichkeit der gerade gültigen Werte. Im politischen Leben ist das Faschismus, in der Kunst Kitsch. Die Wirklichkeit ist einfacher und komplizierter zugleich: Jeder weiß, dass er sterben wird. Trotzdem denken wir alle, dass wir die eine Ausnahme sind. Und damit wäre auch schon alles gesagt.
George Steiner – ein anderer Autor, den ich in meiner Corona-Zeit wieder las – setzt in seinem Text „Der Tod der Tragödie“ das Tragische dem Drama gegenüber. Ein wenig mehr Gleichberechtigung, ein wenig mehr Sozialstaat, schreibt Steiner, und alle Ibsen-Dramen werden zu Komödien. Der tragische Konflikt dagegen, wie wir ihn aus den griechischen Tragödien kennen, ist unlösbar und endgültig. Eine Tragödie ist wie das Leben selbst: Es gibt keinen Ausweg, keinen Kompromiss, nur den Tod.
Was bleibt nach dem Tod? Die Trauer ist, sagte mir vergangenes Jahr ein Schauspieler, der in der Pandemie drei seiner Geschwister verloren hatte, nicht teilbar. Aber ist das wirklich so? Kann man nicht gemeinsam trauern, gibt es nicht eine Gemeinschaft der Trauer? Das ist die Frage, die mein Stück „Grief and Beauty“ stellt, während eine Frau im Video einen einsamen Tod stirbt. Das ist die Frage, die sich viele in den letzten zwei Jahren gestellt haben, angesichts des einsamen Sterbens so vieler Menschen. Wie schafft man einen Raum, in dem die absolute Subjektivität des Todes teilbar wird?
„Grief & Beauty“ zeigt eine durchschnittliche Wohnung. Die Schauspielerinnen auf der Bühne erzählen Geschichten, wie wir alle sie kennen. Über ihnen, auf einer Leinwand, stirbt eine Frau. So sehen wir gleichzeitig das Leben und den Tod.
„Ich steh dir nah und seh dich an“, sagt im mittelalterlichen Allegorienspiel „Jedermann“ die Mutter zu ihrem Sohn, der sterben muss. Im dunklen Herz des Todes liegt ein heller Glutkern. Es ist die Gegenwart, die Fürsorge, der liebende Blick der Lebenden.