Paragraf 219a: Der Frauenkörper als politischer Kampfplatz

Ärztinnen dürfen darüber informieren, dass sie Abtreibungen durchführen, nicht aber über das Wie. Einige Frauen wollen sich das aber nicht länger bieten lassen.

Demonstration gegen die Paragrafen 218 und 129a im vergangenen September in Berlin. 
Demonstration gegen die Paragrafen 218 und 129a im vergangenen September in Berlin. epd/Christian Ditsch

Berlin-Es ist die vorerst letzte Instanz. Am Freitag vor einer Woche, am 19. Februar 2021, hat die Gießener Ärztin Kristina Hänel Beschwerde gegen ihre Verurteilung beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. 2017 wurde Hänel zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie auf der Website ihrer Praxis Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung stellte.

Verstoßen hat sie damit gegen den Paragrafen 219a Strafgesetzbuch: „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“. Wer „eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs anbietet, ankündigt oder anpreist (…), wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ steht da. Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen nach Paragraf 218a unter bestimmten Rahmenbedingungen straffrei. Die sogenannte Werbung dafür aber nicht.

Der Begriff „Werbung“ kommt dabei besonders irreführend daher, und doch steht es genau so im Gesetz. Ein Umstand, der Kritikerinnen und Kritiker des Paragrafen besonders erbost. Denn werben dürfen Ärztinnen und Ärzte von Berufs wegen ohnehin nicht – informieren aber sehr wohl. „Als ich noch als Notärztin im Rettungsdienst fuhr, habe ich auch nicht für Notfälle ,geworben‘, nur weil es die 112 gab“, schreibt Kristina Hänel dazu auf Twitter.

Anzeige | Zum Weiterlesen scrollen

Kompromiss zu 219a: „Umwege, um die direkte Information zu verhindern“

Ihrem Kampfgeist und dem anderer Ärztinnen ist es zu verdanken, dass 219a im Jahr 2019 wenigstens mit einem Zusatz versehen wurde. Seit dem sogenannten Kompromiss, zu dem sich die große Koalition durchringen konnte, ist es Praxen und Kliniken zumindest erlaubt, auf ihrer Website darauf hinzuweisen, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Alle weiteren Informationen darüber aber sind verboten. Stattdessen führt die Bundesärztekammer nun eine Liste, auf der sich Praxen und Kliniken, die die Leistung anbieten, eintragen können.

„Es wurde ein Umweg eingebaut, um die direkte Information zu verhindern“, sagt die Berliner Gynäkologin Bettina Gaber. „Es erschließt sich mir einfach nicht, warum eine andere Website erklären soll, welche Form des Abbruchs ich durchführe – dass ich das aber auf meiner eigenen Seite nicht darf.“ Gaber sieht sich dadurch in ihrer Informationsfreiheit eingeschränkt – und letztendlich auch in ihrer Berufsausübung. „Ich darf auf meiner Website nicht sachlich erklären, was ich als Ärztin tue.“

Wie schmal der Grat ist, auf dem sich Ärztinnen derzeit bewegen, zeigt ein Blick auf die Homepage von Gabers Praxis. „Auch ein Schwangerschaftsabbruch unter den Voraussetzungen des § 218 a StGB gehört zu den Leistungen von Frau Dr. Gaber“, ist dort zu lesen. Das ist das Maximum dessen, was inzwischen erlaubt ist. Die ursprüngliche Fassung des Satzes lautete noch anders: „Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch in geschützter Atmosphäre gehört zu unseren Leistungen.“ Drei Adjektive nur – und doch genug für eine Anzeige und eine Verurteilung.

Schon vor mehr als einem Jahr hat Bettina Gaber beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde dagegen eingereicht. Dass bis jetzt noch nichts passiert ist, wertet sie vorsichtig als positives Zeichen. „Sie hätten meine Beschwerde ja auch sofort abschmettern können. Sie haben aber wohl auf die von Frau Hänel gewartet und fassen sie jetzt zusammen. Entweder sie lassen jetzt beide Beschwerden zu – oder sie schmettern beide ab.“

Opposition kritisiert Rechtsunsicherheit für Ärztinnen und Ärzte

Eine Zulassung der Beschwerde könnte den Streit über 219a neu befeuern. Völlig abgeflaut ist er freilich nie. Vertreter von FDP, Grünen und Linkspartei forderten schon im Juli vergangenen Jahres mit Blick auf die Liste der Bundesärztekammer erneut, den sogenannten Werbeverbotsparagrafen ganz aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Die Liste der Bundesärztekammer habe keine Rechtssicherheit für Praxen und Kliniken gebracht, stattdessen müssten Mediziner, die Abtreibungen durchführen, mit Repressalien rechnen.

2018 haben laut Statistischem Bundesamt 1200 Praxen und Kliniken in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt – ein Rückgang von mehr als 40 Prozent in den letzten 15 Jahren.

Auf der besagten Liste der Ärztekammer fanden sich im Februar 2021 nach Angaben der Bundesärztekammer 349 Adressen – also längst nicht alle Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Gleichzeitig sind sie regional sehr unterschiedlich verteilt. Während in Berlin mehr als 90 Adressen aufgelistet sind, gibt es in Bayern  ganze Landkreise, wo überhaupt keine Abtreibungen angeboten werden.

Maria Noichl, bayerische Europaabgeordnete und Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF), der Frauenorganisation der SPD, gehört zu den vehementen Kritikerinnen der 219a-Regelung. „Es kann doch nicht sein, dass Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zu einem gehüteten Geheimnis werden, das man unter der Hand weitererzählt oder so versteckt, dass man es möglichst nicht findet. Das ist entwürdigend. Im Netz gibt es Informationen zu allen möglichen Prozeduren – von Prostatakrebsbehandlung bis Schamlippenkorrektur –, aber Ärztinnen und Ärzte dürfen auf ihrer Homepage nicht mal erklären, welche verschiedenen Möglichkeiten eines Schwangerschaftsabbruchs es gibt und was dabei passiert?“

„Wer hat die Vorherrschaft über den Frauenkörper?“

Für Noichl geht es bei der Debatte um den Paragrafen 219a aber um noch mehr. „Wir sehen in ganz Europa, dass die Frauenrechte mit dem Erstarken rechter Kräfte eingeschränkt werden. Es geht dabei um die Frage: Wer hat die Vorherrschaft über den Frauenkörper?“ Die Europapolitikerin sieht darin einen Demokratieanzeiger. „In dem Moment, wo Demokratie angeknabbert wird, meist von der rechten Ecke, werden als Erstes Frauenrechte eingeschränkt.“

Auf extreme Weise passiert das gerade in Polen. Nach der letzten Verschärfung des polnischen Abtreibungsgesetzes muss eine werdende Mutter das Kind auch dann austragen, wenn dieses schwere Fehlbildungen hat oder nachweislich kurz nach der Geburt sterben wird.

Für Noichl ist die Entwicklung in Polen ein gefährliches Zeichen. „Der Frauenkörper war immer schon ein politischer Kampfplatz: Wenn rechte Kräfte an die Macht kommen, greifen sie als Erstes auf den Frauenkörper zu. Wenn aber nicht die Frau die letzte Instanz der Entscheidung über ihren Körper ist – wer dann? Die Kirche? Der Ehemann? Die Gesellschaft?“

Auch für Bettina Gaber ist es unverständlich, warum es den Frauen noch zusätzlich schwer gemacht wird. „Viele Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden haben, kommen sehr schambesetzt in meine Praxis. Sie glauben, sie müssten sich rechtfertigen. Dabei ist die Entscheidung, die diese Frauen im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts über ihren Körper und ihre Seele getroffen haben, eine Entscheidung, die ich zutiefst respektiere. Weil ich mir nicht anmaßen kann, auch nur ansatzweise darüber entscheiden zu können, ob es vielleicht doch auch anders ginge.“

Forderung nach Schwangerschaftsabbrüchen als Pflichtleistung

Dass sich schwangere Frauen beraten lassen müssen, bevor sie sich für oder gegen eine Abtreibung entscheiden, findet Gaber nicht schlecht. Ein Schwangerschaftsabbruch aber sollte ihrer Meinung nach zu den normalen medizinischen Leistungen gehören – und auch von den Krankenkassen bezahlt werden.

Maria Noichl geht noch einen Schritt weiter. Ginge es nach der SPD-Politikerin, müssten alle Kliniken, die öffentliche Gelder bekommen, auch Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Eine Zwangsberatung lehnt Noichl ab. „Man sollte alle Hilfestellung bieten, aber man sollte aufhören, Frauen zu gängeln. Vor allem bei Themen, bei denen Männer sich zurücklehnen können, weil sie nie in der entsprechenden Situation sein werden.“

Auch deshalb packt Noichl die Wut, dass der Koalitionspartner nicht vom Paragrafen 219a lassen will. „Die Union stellt sich quer und will ihn unbedingt erhalten. Aber sie lässt es zu, dass Männer – die ja nun mal an der Entstehung des Kindes beteiligt waren – sich dem Unterhalt entziehen“, kritisiert sie. „Wie kann es sein, dass ein Land, in dem der Paragraf 219a existiert, ein Land mit einer der höchsten Zahlen von Vaterschaftsflüchtlingen in Europa ist? Also von Vätern, die für ihre eigenen Kinder nicht zahlen? Wo ist hier der gesellschaftliche Aufschrei?“

Es ist ein weiteres Dilemma in der politischen Debatte: Dass sie vor allem von Männern geführt wird. Im Bundestag liegt der Frauenanteil bei rund 30 Prozent, die größte Regierungsfraktion CDU/CSU stellt knapp 21 Prozent Frauen – nur bei der AfD-Fraktion sind noch weniger Abgeordnete weiblich.

Im Zweifel sind es die Männer, die sich aus dem Staub machen

„Ich glaube, dass das Meinungsbild anders wäre, wenn mehr Frauen darüber entscheiden könnten“, glaubt auch Bettina Gaber. In ihrer Praxis, erzählt sie, hätten schon so viele schwangere Frauen gesessen, die verlassen worden seien. „Da haben die werdenden Väter gesagt: ,Mach was du willst, aber ich will das Kind auf keinen Fall.‘ Wer kneift denn im Zweifelsfall den Schwanz ein und haut ab? Das sind die Männer.“

Wie sich das Bundesverfassungsgericht im Fall 219a auch verhalten wird – am Ende ist die Entscheidung über den Paragrafen, der noch aus der Nazizeit stammt, eine politische. Ob und wann sich in der parlamentarischen Debatte noch etwas bewegt, ist offen – und abhängig von der nächsten Regierungskonstellation.

Maria Noichl hat unterdessen die ausführlichen Informationen, die zu Kristina Hänels Verurteilung geführt haben, auf ihrer Website verlinkt. Auf Deutsch, Englisch und Türkisch ist dort zu lesen, was genau in Hänels Praxis vor, während und nach einer Abtreibung passiert. Konsequenzen muss Noichl deswegen nicht fürchten. Das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche gilt nur für praktizierende Ärzte.