Studenten aus Polen: Die Deutschen werden nicht helfen, wenn die Russen kommen

„Best of Wochenende“: Der Ukraine-Krieg wird in Polen völlig anders wahrgenommen als hier. Das Vertrauen in die Deutschen schwindet.

Eine junge Frau demonstriert gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Foto ist in Warschau entstanden.
Eine junge Frau demonstriert gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Foto ist in Warschau entstanden.imago

Best of Wochenende: Am Ende der Woche präsentieren wir ihnen die besten und lesenswertesten Texte, die in der Berliner Zeitung in den vergangenen Tagen entstanden sind. Lesen Sie hier den Bericht von Tomasz Kurianowicz über ein Treffen mit polnischen Studenten.

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Seit mehr als einem Jahrzehnt beschäftige ich mich mit Polen und arbeite haupt- oder nebenberuflich als Polen-Berichterstatter. In diesem Jahrzehnt, auf das ich zurückblicken kann, gab es Höhen und Tiefen, Annäherungen und Distanzierungen, Respekt und auch viel Misstrauen zwischen den Deutschen und den Polen. Wovon ich aber immer überzeugt war, war die prinzipielle geistesgeschichtliche und auch kulturelle Nähe zwischen beiden Völkern. Ich hatte immer den Eindruck, dass die Polen zu Unrecht als die chaotisch-melancholisch-katholischen und unbegreiflichen Slawen verstanden wurden, zu denen man sie in manchen Gesprächen in Deutschland gemacht hat. Wenn man genauer hinschaut, überwiegen die Ähnlichkeiten. Oder wie ein Freund in Warschau mir einst mal sagte: „Eigentlich sind die Polen ziemliche Spießer.“ (Ergo: Wie die Deutschen.)

Jetzt kommt das Aber. Noch nie habe ich derart große Unterschiede in der Wahrnehmung der Wirklichkeit wahrgenommen wie jetzt nach der Invasion der Russen in die Ukraine. Schon in den ersten Tagen nach dem Angriffskrieg bekam ich bestürzende Nachrichten von polnischen Freunden, die sich entsetzt darüber zeigten, dass Deutschland die Großmacht Russland nicht sanktionieren, nicht in die Schranken weisen, keine Swift-Blockade einführen wolle.

Die SPD-geführte Regierung unter Olaf Scholz wollte abwarten, die wirtschaftlichen Konsequenzen für das eigene Volk kühl kalkulieren. Meine polnischen Freunde schauten fassungslos nach Deutschland und fragten sich: „Was muss noch passieren, damit die Deutschen den Ukrainern helfen?“ Während Deutschlands Linke (Sahra Wagenknecht!) Pazifismus, Besonnenheit und nüchterne Analyse forderte und nach wie vor auf die Verfehlungen des Westens in der Geschichte hinwies (Nato-Osterweiterung!), meldete sich die polnische Linke mit klar militaristischen Empfehlungen zu Wort. Sie forderte Deutschland auf, den ukrainischen Widerstandskämpfern klipp und klar mit Waffen zu helfen.

Ich schaute in entsetzte Gesichter

Ich fuhr in den ersten Tagen des Krieges nach Polen, schaute mir die Lage in Wroclaw an. Die schiere Masse an Ukrainern, die nach Polen gekommen ist, hat natürlich ganz andere Dimensionen angenommen, als es in Deutschland der Fall ist. 2,5 Millionen Ukrainer sind in Polen gestrandet, in 90 Prozent der Fälle sind die Menschen in polnischen Privatunterkünften untergekommen. So skeptisch man den Polen gegenüber in Deutschland auch ist: In der Ukraine-Krise haben sich unsere Nachbarn von einer sehr guten, sehr hilfsbereiten Seite gezeigt. Ich muss gestehen: Ich war und bin immer noch tief gerührt.

Bei meinen Gesprächen in Polen wollten meine Freunde wissen: „Was ist los mit den Deutschen? Warum sind sie so zögerlich? Warum verstehen sie die Gefahr nicht, die von Putin ausgeht? Die baltischen Staaten, die Polen sind doch als Nächstes dran!“

Ich musste meine Freunde beruhigen, den deutschen Standpunkt, die linke Perspektive in Deutschland erklären und sie auch ein wenig verteidigen: Dass man ja schon helfen wolle, aber schlicht Angst hätte vor einem Dritten Weltkrieg. Immerhin sei doch Russland eine Atommacht und ein zu großes und direktes Engagement durch die Nato würde als Einmischung der westlichen Alliierten interpretiert werden. Das könne doch niemand wollen!

„Meine Großeltern hatten also doch recht!“

Ich schaute in starre Gesichter, die meine Argumente nicht verstehen wollten. Was war denn mit den deutschen Parolen des „Nie wieder!“? Wie konnten die Deutschen nachts noch schlafen und mit dem Gefühl der unterlassenen Hilfeleistung leben, während ein europäisches Volk massakriert wurde? Die Ängste vor einem Atomkrieg wurden als übertrieben, ja als Ausreden gesehen. Der polnische Vizeaußenminister erklärte mir in einem Gespräch, dass Wladimir Putin mit seinen Atom-Drohungen nur bluffen und sich geradezu darüber amüsieren würde, wie unentschlossen der Westen auf seinen Angriffskrieg reagiert. Nur eine starke, harte Reaktion würden die Russen als Zeichen werten, dass jetzt wirklich Schluss sein müsse mit dem Krieg.

Bei meinen Reisen durch Polen spürte ich, dass in dem Nachbarland eine andere Stimmung sich breitgemacht hatte als in Deutschland. „Geopolitik spürt man“, sagte ein geopolitischer Experte in Polen in einem Interview. Die Anspannung ist in Polen größer, weil die Menschen sich wirklich bedroht fühlen durch den Krieg. Sie spüren ihn, sie fühlen ihn und haben ein kollektives Bewusstsein für die Gefahr. Sie haben eine Intuition. Die Menschen ahnen, dass sie die Nächsten sein könnten. Und dass die Warnung der Großelterngeneration, die da lautete: „Trau weder einem Russen noch einem Deutschen“, sich jetzt bewahrheiten würde, obwohl solche Parolen noch vor wenigen Monaten – gerade von jungen, liberalen und gut ausgebildeten Linken – als Propagandaparolen der polnischen Rechtsnationalisten abgetan wurden. Heute ist die Welt eine andere. Die junge Generation schaut nach Moskau und nach Berlin und denkt sich enttäuscht: „Meine Großeltern hatten also doch recht!“

„Wir sind auf uns alleine gestellt“

Ich schreibe das auf, weil ich möchte, dass Deutsche in Berlin und anderswo verstehen, was in Polen gerade passiert. Untermauert wurde mein Eindruck der polnischen Angst durch ein Treffen von jungen polnischen Journalisten, dem ich am Montag in einer Bar in Berlin beiwohnen durfte. Ich sprach mit 15 jungen, zwischen 20 und 25 Jahre alten Journalisten und diskutierte über den Krieg. Ich saß einem jungen Mann gegenüber, einem Intellektuellen, gerade mal 20 Jahre alt, der damit haderte, ob er in die Armee gehen würde, falls der Krieg ausbrechen sollte. „Ich liebe mein Land,“ sagte er mir. „Aber ich weiß nicht, ob ich mein Leben dafür geben würde.“

Ich wunderte mich. „Denkt ihr wirklich über Krieg nach?“, wollte ich wissen. Die jungen Polen am Tisch nickten überzeugt. „Ja“, sagte eine junge Frau neben mir sitzend. „In all unseren Kursen wird immer über das Gleiche diskutiert. Was passiert, wenn die Russen sich dazu entscheiden, Polen anzugreifen? Vor allem die Männer diskutieren darüber, was sie tun würden.“ Ich versuchte, diese Gedanken als absurd abzutun und zu versichern, dass ein Angriff Russlands auf Polen absolut unrealistisch sei. Doch die jungen Menschen am Tisch blieben bei ihrer Furcht. Sie wiederholten noch mal jene Frage, die ich immer wieder in den letzten Wochen beantworten musste: „Warum hilft Deutschland den Ukrainern nicht? Wie könnt ihr nachts schlafen?“

Ich erklärte mich erneut, schaute wieder auf entsetzte Gesichter und hörte dann einen Satz von einer jungen Polin, der lange nachklingen sollte. „Deutschland hat sehr viel Respekt verloren in Polen. Niemand vertraut der Nato mehr. Wenn die Russen uns angreifen, dann wissen wir, dass wir auf uns alleine gestellt sind.“

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