Berlin/Lausanne-Die Kathedrale im schweizerischen Lausanne kann man nicht übersehen. Als herausragendes Bauwerk der Stadt steht sie weithin sichtbar auf einem Hügel. Seit 1405 ruft der guet, ein Nachtwächter, vom Turm des gotischen Bauwerks zu jeder Stunde die Zeit aus. Die Stelle entstand einst aus Brandschutzgründen: In der Stadt hatte gerade erst ein heftiges Feuer gewütet und neue Verordnungen zur Verhütung von Bränden mussten her. Auf die Stadt verteilt wurden Aussichtspunkte besetzt, von denen herab Wächter nach Rauch Ausschau hielten und im Notfall riefen und läuteten.
Zwar braucht man heute dank technischer Neuerungen keinen solchen Brandwarner mehr, auch das Glockenläuten ist längst automatisiert. Als es aber im Jahr 1960 darum ging, die Stelle des guet abzuschaffen, regte sich auf den Leserbriefseiten der örtlichen Zeitungen wochenlang Protest. Es zeigte sich die tiefe Verbundenheit der Lausanner mit ihren Wächtern. Also brüllt der guet, nachdem er die 153 Stufen des Glockenturms erklommen hat, auch weiterhin die Stunden von 22 bis 2 Uhr, 365 Tage im Jahr.
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Mehr als 600 Jahre lang übernahmen ausschließlich Männer diese ehrenvolle und schweißtreibende Arbeit. Doch damit ist jetzt Schluss: Mit Cassandre Berdoz steigt nun erstmals eine Frau auf den Turm und wacht in dunkler Stunde über die 140.000-Einwohner-Stadt am Genfersee.
Seit Mitte August ist Berdoz als Aushilfs-Nachtwächterin beschäftigt. Die gebürtige Lausannerin freut sich über die Tätigkeit: „So lange ich zurückdenken kann, fasziniert mich diese Tradition und ich wollte immer Nachtwächterin sein.“ Mit schwarzem Hut auf dem Kopf und einer Laterne in der Hand steigt sie nun allabendlich in den Glockenturm und ruft die aktuelle Uhrzeit aus. Besonders Nachtschwärmer freuen sich über diesen Service.
Berdoz’ kräftige Stimme wurde jahrelang durchs Singen am städtischen Konservatorium geschult. Lausanne ist eine von 63 europäischen Städten, die noch Nachtwächter beschäftigt. Anlässlich eines Frauenstreiks vor zwei Jahren hatte die Stadt zugesagt, den Ausguck zu feminisieren. Nachdem eine Hilfskraft aufgehört hatte, war der Weg frei für die 27-Jährige. Nach Angaben der European Guild of Night Watches hat in Europa noch nie eine Frau einen offiziellen Posten der Nachtwache bekleidet.