Rätselhafter Erdogan-Erfolg : Opposition und Wahlbeobachter zweifeln Wahlergebnis an

So geht ein Wahlkrimi. Die Spannungskurve bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei nahm am Sonntagabend zu, je mehr Wahllokale ausgezählt waren. Laut Regierungsangaben lag der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan nach der Auszählung von rund 95 Prozent der Stimmen mit rund 53 Prozent der Stimmen vorn, wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu fünf Stunden nach Schließung der Wahllokale meldete.

Sein wichtigster Herausforderer, Muharrem Ince von der sozialdemokratischen CHP erreichte demnach knapp 31 Prozent. Zwar schrumpften die angegebenen Stimmen für Erdogan kontinuierlich nach dem Beginn der Auszählung, doch wirkte es zunehmend unwahrscheinlicher, dass er, wie von fast allen Demoskopen prognostiziert, die absolute Mehrheit verfehlen und sich einer Stichwahl würde stellen müssen. Später am Abend erklärte Erdogan sich dann zum Sieger der Präsidenschaftswahl.
Massiver Konflikt droht

Opposition und Wahlbeobachter zweifeln Ergebnis an

Ein ähnliches Bild zeigte sich bei den Parlamentswahlen. Dort lag nach Auszählung von rund 87 Prozent der Wahllokale das Wahlbündnis von Erdogans regierender islamistischer AKP mit der rechtsextremen MHP laut den Anadolu-Angaben bei rund 54 Prozent und damit klar vor dem von der sozialdemokratischen CHP angeführten Oppositionsbündnis, das rund 35 Prozent erreichte.

Demnach kam die MHP auf 11,3 Prozent der Stimmen, was eine handfeste Überraschung ist, weil die Partei nach der Abspaltung der „Guten Partei“, die jetzt rund 10 Prozent erreichte, in fast allen Umfragen unter 10 Prozent geblieben war.

Die linke prokurdische HDP schaffte trotz erheblicher Unregelmäßigkeiten im kurdisch geprägten Südostanatolien den Sprung über die Zehnprozenthürde mit rund 11 Prozent, was Wahlbeobachter auf Leihstimmen der CHP zurückführen.
Die vorläufigen Resultate wurden allerdings von der Opposition und einer unabhängigen Wahlbeobachtergruppe, die eigene Zählungen in Wahllokalen vornahmen und dann hochrechneten, massiv in Zweifel gezogen.

Massiver Konflikt zwischen Erdogan und der Opposition.

Nach Zählung der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP lag Erdogan mit rund 47 Prozent nur knapp vor seinem Herausforderer Ince, der auf etwa 40 Prozent kam. Wieder andere Zahlen veröffentlichte die unabhängige „Wahlgerechtigkeits-Plattform“ rund vier Stunden nach Beginn der Auszählungen, derzufolge Erdogan bei 43,51 Prozent, Ince bei 33,92 Prozent und die Kandidatin der rechten „Guten Partei“, Meral Aksener, bei 12,8 Prozent lagen.

Nach der Wahl droht ein massiver Konflikt zwischen Erdogan und der Opposition. Die größte Oppositionspartei CHP wies die Möglichkeit einer absoluten Mehrheit für Erdogan in der ersten Wahlrunde auf Basis der eigenen Zählungen als „Manipulation“ zurück. CHP-Sprecher Bülent Tezcan rief die Bürger dazu auf, sich vor der Wahlkommission in Ankara zu versammeln und dort bis zum Morgen auszuharren.

HDP freut sich über Wiedereinzug ins Parlament

Die türkische Regierung hatte die Zufahrtsstraßen zu den Zentralen der regierenden AKP und der Wahlbehörde (YSK) in der Hauptstadt Ankara mit Lastwagen blockieren lassen.

Die Wahlbeteiligung war Berichten zufolge mit gut 87 Prozent außergewöhnlich hoch, was der Bedeutung dieses Urnengangs entspricht, mit dessen Hilfe Erdogan den Umbau des Staates zum autoritären Präsidialsystem abschließen möchte. Allerdings hatte er es erstmals seit dem Machtantritt der AKP vor 16 Jahren mit einem ernstzunehmenden Herausforderer zu tun.

Der CHP-Bewerber Muharrem Ince brachte bei seinen Wahlkundgebungen Millionen Menschen auf die Straße, während Erdogan teilweise vor halbleeren Plätzen sprach. In einer ersten Reaktion auf das Wahlergebnis sagte der HDP-Parlamentsabgeordnete Ziya Pir dieser Zeitung, er freue sich sehr über den Wiedereinzug seiner Partei ins Parlament.

Oppositionsvertreter attackiert

„Wir haben es geschafft, obwohl wir so massiv behindert worden sind wie keine andere Partei.“ Mit dem neuerlichen Triumph Erdogans habe er gerechnet, sagte Pir. „Aber das Ergebnis der MHP ist mir unerklärlich. Das ist ein großes Rätsel.“

Die Wahlen waren am Sonntag überschattet von Gewalt und Unregelmäßigkeiten. Im Land hatte sich eine extreme Spannung aufgebaut, da ein Wahlsieg der Opposition nicht mehr ausgeschlossen erschien.

Sie entlud sich teilweise in massiver Gewalt, bei der in der ostanatolischen Stadt Erzurum der Vorsitzende der oppositionellen „Guten Partei“ und zwei seiner Begleiter getötet wurden. Auch in anderen Städten wurden Oppositionsvertreter attackiert.

Wahlscheinen-Transport mit Warnschüssen gestoppt

Zudem berichteten Beobachter bereits kurz nach Beginn der Wahlen über teils massive Unregelmäßigkeiten vor allem aus dem kurdisch geprägten Südostanatolien, die offenbar von Anhängern der AKP und der mit ihr verbündeten MHP ausgingen.

So sei in der südöstlichen Provinz und AKP-Hochburg versucht worden, Wahlbeobachter mit „Schlägen, Drohungen und Angriffen“ von den Urnen fernzuhalten, sagte der CHP-Sprecher Tezcan. Im Bezirk Suruc von Sanliurfa liefen „bewaffnete Personen ganz offen herum“.

Die oppositionelle Zeitung Birgün meldete, dass die Polizei in Suruc ein Auto mit Warnschüssen stoppte, in dem sie vier Säcke mit abgestempelten Wahlscheinen fand.

Wahlbeobachter festgenommen

Die OSZE, die 370 Beobachter zu den Wahlen entsandt hat, erklärte, sie habe wegen der angespannten Sicherheitslage niemanden nach Suruc geschickt. Mehrfach wurde per Video dokumentiert, dass Personen gruppenweise in eine Wahlkabine gingen oder Wähler ihre Stimmzettel fotografierten, was verboten ist.

Berichtetet wurde von ungestempelten Wahlzetteln, bedrohten Wahlkampfhelfern, plötzlich aufgetauchten Stimmzettelbündeln für Erdogan. Mehr als ein Dutzend ausländische Wahlbeobachter wurden festgenommen.

59 Millionen Stimmberechtigte

Der CHP-Kandidat Muharrem Ince erklärte am Sonntagnachmittag, seine Partei werde den Manipulationen nachgehen: „Was auch immer sie tun, sie werden verlieren. Ich werde mit meinem Leben für eure Stimmen einstehen. Wir werden siegen.“ Staatspräsident Erdogan sagte zu Medienvertretern, nachdem er in Istanbul gewählt hatte: „Mit diesen Wahlen erreicht die Türkei eine echte demokratische Revolution!“

Die Regierung hatte im Wahlkampf vor allem den Bau von Brücken, Straßen und Krankenhäusern hervorgehoben. Die Opposition forderte dagegen die Rücknahme des umstrittenen Präsidialsystems, versprach die Aufhebung des Ausnahmezustands und die Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Bürgerrechten.
Insgesamt waren mehr als 59 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen.