Rebellion in Arabien: Die Systeme müssen sich ändern
In Tunesien verbrennt sich am 17. Dezember 2010 ein 26 Jahre alter Gemüsehändler. Polizei und Behörden haben ihn jahrelang schikaniert, er kann sich und seine Familie kaum noch ernähren. Die Nachricht von der Selbstverbrennung verbreitet sich in Tunesien und bald über die Grenzen des Landes hinaus – und wird zum Fanal für eine Aufstandsbewegung, für den Arabischen Frühling: Tausende Menschen, vor allem Jugendliche, gehen in den kommenden Wochen und Monaten auf die Straßen, von Nordafrika bis zur arabischen Halbinsel.
Die Menschen protestieren gegen ihre Herrscher und die verkrusteten Systeme, gegen Willkür und Repression. Sie fordern Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit. Dieser Aufstand erschüttert eine Region, die über Jahrzehnte bewegungsunfähig und völlig immun gegen Modernisierung und Reformen schien.
So unterschiedlich die Regierungssysteme in diesem Raum auch sind, die Ursachen gleichen sich: Es sind die Arroganz der Herrscher, die Ausgrenzung gerade der Jugendlichen und Frauen vom politischen Geschehen, hohe Arbeitslosigkeit, soziale Missstände sowie der Mangel oder das völlige Fehlen demokratischer Freiheiten. Via Internet und sozialen Netzwerken werden die Revolutionen oftmals organisiert, der Zugang zu den Medien über Satellit trägt dazu bei, dass auch die Bürger in entlegenen Gegenden erfahren, was in ihrem Land geschieht.
In einigen Ländern sind die Diktatoren bereits vertrieben. In Staaten wie Bahrain wurde die Erhebung niedergeschlagen. In Marokko und Jordanien konnten die Könige ihre Bevölkerung mit Reformversprechen und sozialen Zugeständnissen beschwichtigen. Im Jemen findet der Machtwechsel gerade statt. In Syrien ist noch nicht abzusehen, ob das Regime die Erschütterungen übersteht. Dabei demonstriert der syrische Präsident Baschar al-Assad, wozu Diktatoren bereit sind, um an der Macht zu bleiben. Ihnen zur Seite stehen all die, die von den bestehenden Verhältnissen: der Geheimdienstchef, der Folterer, der um seinen Job fürchtende Bürgermeister, der Lehrer, der Bürodiener. Auch Angehörige von Minderheiten haben Angst, wie derzeit die Christen in Syrien: Sollte Assad stürzen und Islamisten die Macht übernehmen, fürchten sie Verfolgung und Tod.
Die Sorgen der Minderheiten sowie das Beharrungsvermögen der alten Eliten sind nicht die einzigen Herausforderungen, vor der die Revolutionäre in jenen Länder stehen, in denen ein Führungswechsel stattgefunden hat: Islamisten fordern oder erringen mehr Macht. Der Staatsapparat muss umgebaut, Polizei und Sicherheitsdienste müssen restrukturiert werden. Und die neuen Regierungen haben sich „mit den gleichen sozialen und wirtschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen, die die alten Regimes ignoriert haben und die letztlich zu ihrem Sturz führten“, sagt Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Wirtschaftsprobleme waren ein wesentlicher Grund für die Rebellionen, sagt auch der Nahost-Experte Alexander Flores von der Uni Bochum. „Und sie müssen angepackt werden, wenn die Veränderungen zum Erfolg führen sollen. Aber sie haben sich über Jahrzehnte angestaut und sie sind so gravierend, dass ihre Lösung viel Zeitbrauchen wird“. So habe es in Ägypten unter Mubarak ein System gegeben, in dem wirtschaftlicher Erfolg von Beziehungen, der Nähe zum Präsidenten und zur Partei abhing. Flores kann nicht erkennen, dass dieses System in Frage gestellt wird. „Nur die Macht der Mubarak-Familie ist gebrochen.“
In Tunesien und Ägypten haben die anhaltenden Proteste zuerst einmal dazu geführt, dass sich die bereits miserable Wirtschaftslage weiter verschlechterte. So brach der Tourismus ein- und damit eine Haupteinnahmequelle des Staates. Betriebe schlossen, Preise für Nahrungsmittel stiegen, Exporte verzögerten sich. Die Menschen hoffen aber nicht nur auf Stabilität, sondern erwarten neue Arbeitsplätze und damit Zukunftsperspektiven. Allein aber können die Umbruch-Länder diese Aufgaben nicht bewältigen.
Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik schlägt daher „eine Öffnung der EU für Produkte und Fachkräfte aus der Region“ vor sowie eine Aussetzung noch bestehender Zölle , die Importe in die EU behindern. Und es müsse ein langfristig angelegter „Pakt für Arbeit, Ausbildung und Energie“ verhandelt werden.
Programme zur Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit seien bereits angelaufen, heißt es in einem aktuellen Papier der Bertelsmann-Stiftung „Europa und die Arabellion 2012.“ Die EU gehe auch „so sensible Themen wie „Mobilität“ und „Handelserleichterungen“ im Interesse der Transformationsländer an“. Doch diese gesamteuropäischen Initiativen dürften nicht, so warnt die Stiftung, „wie vor der Arabellion zu oft geschehen, durch widerstrebende Interessen der Mitgliedsstaaten oder durch Aktionen im Kampf gegen den Terrorismus und die illegale Einwanderung konterkariert werden“.