Kiew am Jahrestag des Krieges – ohne russische Großattacke
Die Regierung der Ukraine warnte vor Raketenangriffen an diesem 24.Februar. Sie blieben aus. Die Menschen in Kiew sind selbstbewusst und vorsichtig zugleich.

Die Kamerateams aus aller Welt auf dem Maidanplatz in Kiew müssen aufpassen, sich nicht gegenseitig ins Bild zu nehmen. Reporter halten an diesem Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine in allen Winkeln des Unabhängigkeitsplatzes Live-Schaltungen. Passanten eilen unbeeindruckt vorbei. Die Viermillionenstadt geht ihrem Alltag nach. Geschäfte, Restaurants und Cafés haben geöffnet. In vielen Schaufenstern hängen Schleifen in den blau-gelben Nationalfarben.
Es geht am Jahrestag des russischen Überfalls etwas weniger geschäftig zu im Zentrum der Hauptstadt als üblich. Vielleicht fallen die vielen Journalisten auch deshalb auf, weil weniger Menschen unterwegs sind.
Die ukrainische Regierung hatte die Bevölkerung vor massiven Raketenangriffen um den 24. Februar herum gewarnt und dazu geraten, möglichst die Schutzräume aufzusuchen. Russland plane, bis zu 100 Raketen auf Kiew und andere Städte in der Ukraine abzufeuern, erklärte das Verteidigungsministerium.
Wie bei den vorausgegangenen Attacken könnte erneut die Energieinfrastruktur Ziel der Angriffe sein, hieß es in der vergangenen Woche. Den Russen war es im Spätherbst gelungen, erheblichen Schaden an der ukrainischen Energieversorgung zu verursachen. Zeitweise fielen bis zu 40 Prozent der ukrainischen Kraftwerke und Umspannleitungen aus. Im ganzen Land gab es über Wochen nur rationiert Strom und Wärme.
Wärmezelte in Kiew erinnern an die Energiekrise
Drei Monate später erinnern nur noch Wärmezelte überall in der Stadt an die Energiekrise im Herbst. Ukrainische Ingenieurtrupps haben die Schäden beseitigt. Einen großen Angriff aus der Luft erlebte Kiew zuletzt Neujahr. Sirenen heulen aber auch jetzt fast täglich auf. Das Verteidigungsministerium machte jüngst russische Ballons über der Hauptstadt aus. Sie dienten einzig dem Zweck, die ukrainische Luftabwehr zu testen und unter Stress zu setzen, erklärte das Ministerium.
Die gefürchteten Angriffe gab es am Jahrestag der russischen Aggression bis zum Abend nicht. Die meisten Ukrainer haben eine Warn-App der Regierung installiert. Sie schickt Push-Nachrichten, oft noch, bevor die Sirenen heulen. Die App zeigt am Morgen Ruhe im ganzen Land an. Gerade in den Morgenstunden gibt es häufig Luftangriffe. Dann rollt der Morgenverkehr durch Kiew und andere Städte.
Jahrestage haben es an sich, dass Erinnerungen wieder hervorkommen, die sonst verdrängt werden. Es gibt wohl niemanden in der Ukraine, der sich nicht genau an die Erlebnisse und Gefühle des ersten Kriegstags erinnern kann.
Die Kiewerin Anna Lenchowska arbeitet für eine NGO, die sich für junge Menschen in der Ukraine einsetzt. Sie erinnert sich, dass ihr Team trotz des Beginns des Krieges am 24. Februar 2022 an einem verabredeten Zoom-Meeting festhielt. „Wir saßen eine Stunde am Bildschirm und haben gemeinsam unsere Gefühle und Gedanken sortiert. Da war so viel Kraft und Gemeinschaftsgefühl in diesem schrecklichen Moment“, erinnert sich Lenchowska.
Ihr Mann Valera und sie überlegten in den Wochen vor dem Krieg, ihre Papiere zu Freunden ins Ausland zu schicken. „Wir sind seit Jahren als Menschenrechtsaktivisten bekannt. Wir wollten sichergehen, dass jemand nach uns suchen kann, falls die Russen Kiew besetzen und wir auf einer Schwarzen Liste stehen und einfach verschwinden“, sagt Lenchowska.
Ein Jahr später habe sie solche Existenzängste nicht mehr, sagt sie. Die ukrainischen Streitkräfte haben mit ihrem Willen zum Widerstand nicht nur die Welt, sondern auch die Ukrainer überrascht. Selbst bei einem erneuten Angriff auf Kiew aus Belarus rechnet niemand in der Hauptstadt damit, dass die Russen im Spaziergang bis zum Maidanplatz vordringen. Die ukrainische Armee hat das Gebiet nördlich von Kiew bis zur Grenze des mit Russland verbündete Belarus mit zahlreichen Verteidigungslinien befestigt.
Lenchowska gehört im Vergleich immer noch zu den vorsichtigen Menschen in der Hauptstadt. Sie versuche immer, einen Schutzraum aufzusuchen, sobald die Sirenen in der Hauptstadt schrillen. Die meisten Kiewer ignorieren die Alarme inzwischen. Sie vertrauen auf die mit westlicher Hilfe immer effektivere Luftabwehr rund um Hauptstadt.
Der Kiewer Rechtsanwalt Dmytro Nazarets gehört ebenfalls zu den Menschen, die nicht blind auf die Luftabwehr in der Hauptstadt vertrauen. „Ich habe meine Tochter heute nicht zur Schule geschickt“, sagt er. Er war monatelang von der in die Schweiz geflüchteten Frau und seiner Tochter getrennt. Die Tochter hatte im Herbst so viel Heimweh, dass die Eltern sich zu sorgen begannen. Schließlich entschieden sie, dass die Tochter zurückkehren darf, solange in Kiew die Lage stabil bleibt.
Der Vater erinnert sich an die hastige Flucht vor einem Jahr über die verstopften Straßen und Autobahnen in den äußersten Westen der Ukraine. Es waren Tage, in denen Millionen Ukrainer einen raschen Zusammenbruch ihrer Armee fürchteten und sich so weit wie möglich von der Front entfernen wollten. „Es war schon alles verrückt“, sagt er. Der Wahnsinn des Krieges ist für die Ukrainer bis heute Alltag geblieben.