Ricarda Lang im Interview: Ich wäre bereit, Wohnungstausch rechtlich zu ermöglichen
Die Parteivorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, über ihren Werdegang als Politikerin und die Frage, wie die Grünen sich und die Welt verändern wollen.

Ricarda Lang kommt zu Fuß im Berliner Verlag an. Unser Chefredakteur führt sie durch die Redaktion. Sie hört interessiert zu, stellt Fragen. An einer Wand mit den gedruckten Titelseiten der Wochenendausgabe verharrt sie besonders lang. Im Interview ist sie kompetent und zugleich ehrlich. Einiges an grüner Leistungsschau muss natürlich sein, klar. Aber man glaubt ihr, dass sie sich nicht verbiegen lassen will in diesem beinharten Geschäft.
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Frau Lang, wir haben gerade festgestellt, das erste Porträt über Sie ist 2016 in der Berliner Zeitung erschienen – und jetzt sind Sie ganz oben angekommen. Wachen Sie manchmal nachts auf, kneifen sich und fragen sich, ob das alles vielleicht nur ein Traum ist?
Es ging alles sehr schnell. In meiner Bewerbungsrede zur Parteivorsitzenden vor einem Jahr ging es unter anderem darum, was wir nach den 16 Jahren Stillstand unter der Großen Koalition an der Regierung auf den Weg bringen wollen. Vieles davon sind wir schon im ersten Regierungsjahr angegangen: Anhebung des Mindestlohns und des Kindergeldes, Ausbau der Erneuerbaren. Gleichzeitig hat der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine seit dem 24. Februar alles erschüttert, zuallererst für die Menschen in der Ukraine. Aber natürlich auch hier für uns in Deutschland und unsere Politik. Mit unglaublicher Geschwindigkeit haben wir Entscheidungen getroffen, um einerseits die Ukrainerinnen und Ukrainer zu unterstützen, andererseits unsere Energieversorgung zu sichern. Mir wird immer wieder bewusst, welch große Ehre es ist, in diesen Zeiten gestalten zu können. Es ist zugleich eine große Verantwortung, die wir hier für viele Millionen Menschen tragen.
Warum sind Sie eigentlich in die Politik gegangen?
Bei mir hat es ziemlich persönlich angefangen. Als ich 18 war, hat meine Mutter ihren Job verloren. Sie hat 14 Jahre lang als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus gearbeitet. Einer von diesen Jobs, die nicht besonders gut bezahlt sind, aber wo sie immer wusste, warum sie ihn macht, nämlich um Frauen und Kinder zu unterstützen. Dann musste das Frauenhaus schließen, weil Geld gefehlt hat. In dem Moment habe ich gedacht: Das ist ungerecht, das will ich nicht hinnehmen. Danach habe ich begonnen, mich politisch zu engagieren.
Warum bei den Grünen? Gerechtigkeit wäre ja auch ein SPD-Thema.
Mir war schnell klar, dass die Grünen für mich die Gerechtigkeitspartei sind. Nehmen wir das Thema Lohngerechtigkeit: In der Pandemie wurde für viele Berufe geklatscht, nur zahlt Applaus nicht die Miete. Häufig sind das übrigens klassische Frauenberufe, und nach wie vor gibt es da zu wenig Verbesserungen. Die Grünen stehen für eine gute Sozialpolitik – und zugleich für Gerechtigkeit in der Verbindung von ökologischen und sozialen Themen. Denn die Klimakrise birgt viele soziale Fragen: Wohnt man im Energieeffizienzhaus oder im schlecht isolierten Plattenbau? Kann man sich Bio-Lebensmittel und Zugfahren leisten? Diese Themen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern Gerechtigkeit und Klimaschutz zu verbinden, dafür stehen besonders die Grünen.

Wir haben in der Redaktionskonferenz über den Vorschlag von Frau Jarasch gesprochen, bis 2030 in der City nur noch E-Autos zuzulassen und keine Verbrenner mehr. Was ist mit Leuten, die sich das nicht leisten können, die aber auf das Auto angewiesen sind oder mal zum Urlaub an die Ostsee fahren wollen?
Die Frage, die Bettina Jarasch aufgeworfen hat, ist ja vor allem die nach Alternativen. Das Wichtigste ist hier, gerade in der Großstadt, natürlich ein gut ausgebauter ÖPNV, der bezahlbar und pünktlich ist – und dabei das gesamte Gebiet abdeckt. Daran arbeitet Bettina Jarasch Tag und Nacht.
Das heißt aber, dass die, die sich bis 2030 noch kein E-Auto gekauft haben, auf den ÖPNV umsteigen müssen?
Die Automobilkonzerne stellen sich darauf ein, dass die Zukunft elektrisch ist. Die EU hat im letzten Jahr das Verbrenner-Aus 2035 beschlossen: Ab dann dürfen nur noch emissionsfreie Autos neu zugelassen werden. Das heißt, die Richtung ist klar, der Markt für E-Autos wird größer, das gilt übrigens auch für den Gebrauchtmarkt. Die Wirtschaft weiß längst, wo es langgeht. Diese Zukunft mitzudenken, Anreize, aber auch Alternativen zu schaffen, passt zu einer modernen Stadt wie Berlin.
Können Sie sich auch vorstellen, dass es Verbote gibt – etwa Zonen, wo man sagt, da gibt es nur Elektroautos?
Solche Modelle kennt man ja schon von den Umweltplaketten und vielen anderen Hauptstädten.
Kann man sich im Moment Ökologie leisten? Gerade wegen der Inflation. Und auch Bahnfahren ist ja nicht immer billig.
Wir schaffen ab Mai mit dem bundesweiten 49-Euro-Ticket einen Durchbruch beim Thema bezahlbare Mobilität, das ist ein Beispiel, wie Klimaschutz und soziale Fragen Hand in Hand gehen können. Aber gleichzeitig ist Klimapolitik kein Ersatz für eine gute Sozialpolitik. Deutschland muss gerechter werden, und da müssen wir auch politisch die Weichen stellen, vom Mindestlohn bis zu stabilen Renten. Abgesehen davon gilt: So wichtig es ist, dass jeder, der kann, einen Beitrag leistet, werden wir die Klimakrise nicht einfach durch individuelles Handeln in den Griff bekommen. In vielen Fällen sind es strukturelle Fragen, sei es der Kohleausstieg 2030 oder der Ausbau der erneuerbaren Energien. Übrigens ist auch Klimaschutz ein Aspekt der sozialen Gerechtigkeit. Wenn die Sommer immer heißer werden, trifft es am stärksten die Leute, die in unsanierten Wohnungen leben. Und letztlich ist Klimaschutz doch auch im ureigenen, fast schon egoistischen Interesse von uns allen. So hat es mir kürzlich ein Taxifahrer gesagt: Ich will doch auch gute Luft atmen und auf einem sauberen Planeten leben! Ich finde, das trifft es ganz gut.
Das Thema Wohnen ist für junge Leute das zentrale Thema – sie können sich das nicht mehr leisten. Wäre es für Sie denkbar, auch zu radikaleren Maßnahmen zu greifen, wie etwa Enteignungen oder Umwidmungen?
Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit. Ich kenne viele junge Leute, die gerade eine Familie gegründet haben, und die finden nichts. Hinzu kommt, dass vor einigen Tagen die SPD-Bauministerin Geywitz angekündigt hat, dass das Ziel der geplanten Neubauten nicht eingehalten werden kann. Darum müssen wir nun umso dringender beim Mieterschutz vorankommen. Bettina Jarasch hat gesagt, dass 50 Prozent der Wohnungen in einem Bereich sein sollen, wo sie bezahlbar sind. Damit Länder und Kommunen aktiv werden können, muss der Bund vorangehen: Die Mietpreisbremse muss nachgeschärft werden, es gibt immer noch viel zu viele Ausnahmen. Die Kommunen brauchen mehr Handlungsspielraum und Rechtssicherheit, wenn es um das Vorkaufsrecht geht. Und es gilt, eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit zu schaffen, damit wieder mehr dauerhaft bezahlbarer Wohnraum in Deutschland entsteht.

Was ist mit der Möglichkeit eines Wohnungstauschs? Sollte man Leute, die allein in einer großen Wohnung leben, dazu drängen, mit jungen Familien zu tauschen, die gerade eine größere Wohnung benötigen?
Wohnungstausch sollte wesentlich einfacher werden, wenn er denn gewünscht ist. Es gibt zum Beispiel ältere Menschen in großen Wohnungen, die gern umziehen würden, weil sie nicht mehr alle Zimmer nutzen und heizen wollen, und auf der anderen Seite junge Familien, die dringend ein Zimmer mehr brauchen. Es wäre doch gut, wenn die untereinander unkompliziert tauschen und so beide zu fairen Mieten im gewohnten Kiez bleiben könnten. Das muss ohne größeren Aufwand rechtlich möglich sein, auch hier kann der Bund für ein Recht auf Wohnungstausch sorgen.
Da müssten die Koalitionspartner aber mitmachen.
Das stimmt, aber ich wäre dazu bereit.
Das Problem der Leistbarkeit liegt auch daran, dass die Löhne nicht in dem Maß gestiegen sind wie in Preise. Was können Sie im Bereich Lohngerechtigkeit konkret tun?
Das ist für mich einer der zentralen Schwerpunkte meines Arbeitens. Und es ist ein Zeichen des Respekts. So viele Menschen leisten in diesem Land so viel, da muss es doch eine Selbstverständlichkeit sein, dass man von seiner Arbeit auch gut leben kann. Beim Mindestlohn sind wir schon einen großen Schritt gegangen. Das hat bei Millionen Menschen dafür gesorgt, dass sie mehr Geld im Geldbeutel haben. Darüber hinaus müssen wir schauen, dass es eine stärkere Tarifbindung gibt, gerade im Osten – und übrigens sogar innerhalb von Berlin. Tarifflucht muss bekämpft werden. Und: Wenn ein Arbeitgeber die Gründung eines Betriebsrats aktiv verhindert, kann durchaus mal der Staatsanwalt vorbeischauen. Außerdem muss die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen geschlossen werden. Im Durchschnitt verdient eine Frau 18 Prozent weniger als ein Mann – da müssen wir ran.
Auf der anderen Seite wird viel Geld in die Rüstung gesteckt – wie etwa bei den 100 Milliarden Euro Sondervermögen, das natürlich für soziale Zwecke fehlt. Wie schafft es die grüne Partei von der früheren Partei der Kriegsgegner zu ihrem aktuellen Rüstungskurs?
Dieses Thema hat mir im vergangenen Jahr viele schlaflose Nächte bereitet, als Vorsitzende einer Friedenspartei. Noch mehr haben das die Bilder aus der Ukraine, die Bilder aus Butscha, Verbrechen an Kindern, Vergewaltigungen von Frauen, schlimmste Kriegsverbrechen. Ich habe mich gefragt: Was bedeutet es eigentlich in dieser Zeit, Friedenspartei zu sein? Friedenspartei zu sein, heißt für mich nicht, danebenzustehen und zuzusehen, wenn Menschen angegriffen werden. Es bedeutet, die Menschen in der Ukraine beim Kampf um ihre Souveränität und die Demokratie zu unterstützen. Gerade wer sich Frieden wünscht, hat ein Interesse daran, dass die Ukraine ihr Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen kann. Wie genau, das ist ein Abwägungsprozess, über den wir in der Regierung immer wieder beraten, auch in Abstimmung mit unseren internationalen Partnern.
Müssten Sie dann nicht auch die Bundeswehr viel stärker ausbauen? Traditionell sind die Grünen doch eher die Partei der Wehrdienstverweigerer. Muss es da auch einen Kurswechsel geben?
Es ist klar, dass die Bundeswehr gut ausgestattet sein muss, damit sie ihre Aufgaben gut erfüllen kann. Das sage ich auch als Grüne. Das ist nicht nur eine Frage von Geld, sondern auch von effizienteren Strukturen: Wir brauchen dringend eine Reform des Beschaffungswesens, damit das Geld auch da landet, wo es gebraucht wird.
Und das Ziel der Nato, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts jedes Mitgliedstaates müsse in die Verteidigung fließen?
Ich halte wenig davon, letztlich willkürliche Zahlen festzulegen. Wir müssen schauen, welche Aufgaben die Bundeswehr hat – und wie diese finanziert werden.

Kann es sein, dass die Grünen bei Rüstungsausgaben so zurückhaltend sind, weil sie gegen Verschwendung sind? Eine Armee hat man, um sie nie einsetzen zu müssen.
Für mich sind die Grünen eine Partei der Vorsorge. Nehmen Sie die Feuerwehr. Es wäre unsinnig, zu sagen, wir brauchen keine Feuerwehr, weil wir hoffen, dass es gar nicht brennt. Natürlich müssen wir alles tun, um den Ernstfall zu vermeiden, aber wir müssen trotzdem darauf vorbereitet sein.
Haben sich die Grünen grundsätzlich verändert in ihrer Haltung zum Krieg, oder nur, weil der Ukraine-Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet?
Die entscheidende Frage ist eine andere: Es hat hier ein autokratischer Staat einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen einen demokratischen Staat begonnen. Das hat ganz Europa erschüttert, weil Wladimir Putin nicht nur die Ukraine, sondern auch unsere Werte von Frieden, Freiheit und Demokratie angreift. Nicht ohne Grund sprechen wir von einer Zeitenwende. Wir rücken also nicht von unseren tiefsten Überzeugungen als Friedenspartei ab. Das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung gegen den Angriff eines autokratischen Regimes steht dem nicht entgegen.
Um härter gegen autokratische Regime vorgehen zu können – müsste da nicht auch die Bundeswehr noch einmal ganz anders aufgestellt sein? Im Moment können viele Länder keine Waffen liefern, weil sie selbst keine mehr haben.
Die Ampel hat jüngst ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro zur Modernisierung der Bundeswehr auf den Weg gebracht. Aber mal grundlegend: Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Frieden wie eine Selbstverständlichkeit schien. Ich glaube, wir mussten uns im letzten Jahr alle bewusst werden, wie wichtig es ist, den Frieden und die Demokratie zu verteidigen.

Sind Sie für die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine?
Jetzt geht es darum, die Lieferung der Leopard-Panzer auf den Weg zu bringen. Das ist komplex und gleichzeitig braucht die Ukraine schnell Unterstützung. Debatten über weitere Waffensysteme helfen da niemandem.
Also wenn die richtige Zeit gekommen ist, dann können Sie sich das vorstellen?
Die zentrale Frage ist doch: Wie schaffen wir es, dass das, was wir zugesagt haben, nämlich die Leopard-Panzer, so schnell wie möglich in der Ukraine ankommen? Russland droht mit einer Großoffensive und die Ukraine braucht unsere Unterstützung. Darauf gilt es sich jetzt zu fokussieren.
Wäre es beim Thema Ukraine jetzt nicht auch sinnvoll, zu fragen, wie es nach dem Krieg weitergeht? Müsste man nicht überlegen, wie man da am Ende wieder rauskommt, mit Verhandlungen etwa, oder muss das jetzt zunächst einmal militärisch entschieden werden?
Am Ende dieses Kriegs werden mit großer Wahrscheinlichkeit Verhandlungen stehen. Die Frage ist aber, unter welchen Voraussetzungen diese Verhandlungen stattfinden. Und wie die Ukraine in solche Verhandlungen gehen kann, hängt eben davon ab, wie stark sie jetzt unterstützt wird, wie gut sie aufgestellt ist. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, von wem die Aggression ausgeht: Wladimir Putin. Der Kreml könnte diesen Krieg morgen beenden. Bisher gibt es dafür leider kein Anzeichen.
Frau Baerbock hat gesagt, wir befinden uns im Krieg mit Russland. Sind wir im Krieg mit Russland?
Die Ukraine wurde von Russland angegriffen. Wir unterstützen sie in ihrem Recht auf Selbstverteidigung, sind aber keine Kriegspartei, und das wird auch so bleiben. Gleichzeitig ist es so, dass Russlands Angriff sich gegen mehr richtet als nur ein einzelnes Land, er richtet sich gegen die Demokratie als solche. Das sieht man übrigens auch daran, dass Putin die Unterdrückung der Opposition im eigenen Land noch mal massiv erhöht hat, die Bürgerrechte wurden weiter eingeschränkt, das Regime wird noch repressiver. Wir haben durch unsere Unterstützung für die Ukraine klargemacht, dass sich Demokratie nicht wegbomben lässt. Zugleich hat es die Ampel-Regierung, allen voran der Bundeswirtschaftsminister, trotz aller Unkenrufe geschafft, dass unsere Energieversorgung nicht zusammengebrochen ist, sondern dass wir mit vollen Gasspeichern durch den Winter kommen. Wir sind innerhalb eines Jahres völlig unabhängig vom russischen Gas geworden – auch wenn wir dafür einige schwierige Entscheidungen treffen mussten.
Die Kernenergie?
Nicht nur – um die Energieversorgung zu sichern, braucht es zum Beispiel auch Flüssiggas, also LNG, wohlgemerkt übergangsweise. Es werden in Rekordzeit LNG-Terminals in Betrieb genommen, auch die machen uns unabhängig von russischer Energie.
Die sind allerdings auch nicht besonders umweltfreundlich – eines ist ein von Australien ausgemustertes Schiff, gegen das die Umwelthilfe massiv protestiert. Mussten Sie das schlucken?
Natürlich sind solche Entscheidungen nicht einfach, aber für mich wird da auch klar, was grüne Politik bedeutet: Handeln anhand der Realität im Hier und Jetzt, ohne dabei das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Stellen Sie sich vor, wir hätten noch eine schwarz-rote Regierung: Dann hätte es vielleicht ebenfalls neue LNG-Terminals gegeben, aber SPD und Union hätten nicht gleichzeitig die erneuerbaren Energien ausgebaut. Da wäre der Ausbau von Solarindustrie und Windkraft weiter verschleppt worden, ein früherer Kohleausstieg hätte gar nicht zur Debatte gestanden. Wir haben Handlungsfähigkeit bewiesen und verfolgen dabei weiter das Ziel, das Land klimaneutral zu machen.
Aber warum dann LNG? Dann wäre es doch für das Klima besser, gleich mit Kernenergie als Brückentechnologie zu arbeiten. Denn bei LNG begibt man sich gleichzeitig in die neuen Abhängigkeiten von anderen Autokratien. Wäre es nicht besser, mit Atomkraft auf Autarkie zu setzen?
Am besten ist der schnelle Ausbau der Erneuerbaren, und genau daran arbeiten wir. Denn Energie aus Wind und Sonne ist günstig, sauber und schützt damit Klima und Geldbeutel. Hier in Berlin geht man ja jetzt voran, mit Solar auf jedem neuen Dach. Klimaschutz muss Priorität werden, jedes Bundesland sollte da mitmachen. Darüber hinaus braucht es im Übergang flexible Kraftwerke, die einspringen, wenn der Wind mal nicht weht und die Sonne mal nicht scheint. LNG-Gas ist dafür geeignet, Atomkraft nicht.

Wenn das aber ihre Strategie ist, müssten die Grünen dann nicht auch auf EU-Ebene dafür sorgen, dass die Atomkraft verschwindet? Wir haben sehr unsichere Atomkraftwerke in der unmittelbaren Nachbarschaft. Müssten die Grünen da nicht aktiv werden?
Es steht uns nicht zu, anderen Ländern vorzuschreiben, was sie machen. Aber wir können mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, wie es gelingen kann, erneuerbare Energien auszubauen und als Industrienation klimaneutral zu werden. Dadurch entstehen ja auch Jobs, von denen Zehntausende unter der Großen Koalition abgewandert sind! Grundsätzlich denke ich aber, dass wir auch mehr Gemeinsamkeit in der Energiepolitik brauchen. Es war jedenfalls keine gute Entscheidung, zu sagen, dass Atom und Gas nachhaltig im Sinn der EU-Taxonomie seien. Da wäre es besser, zu sagen: Nachhaltig sind die Erneuerbaren, und dahin sollte auch das Geld fließen.
Herr Scholz sollte in Brüssel vorstellig werden und sagen, so geht das nicht?
Deutschland hat ja in Brüssel gegen diese Entscheidung gestimmt. Wir sollten da weiter dranbleiben.
Also werden sich die Grünen dafür einsetzen, dass dieses Thema noch einmal diskutiert wird?
Die Taxonomie wird uns sicherlich alle noch beschäftigen. Es geht hier ja auch um riesige Investitionen – und die nützen allen Staaten in Europa nur, wenn sie in die Erneuerbaren gehen.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Umweltschutzpartei und einer Klimaschutzpartei?
Ich glaube nicht, dass man das trennen kann. Wir brauchen eine intakte Natur als Verbündete beim Klimaschutz. Zugleich ist nichts eine größere Gefahr für Biodiversität und Artenvielfalt als die Klimakrise.
Die Themen, mit denen Sie es in der Politik zu tun haben, sind ja mittlerweile sehr komplex. Sie sind als junge Politikerin noch nicht so zynisch wie manch ein Altgedienter …
… sollte ich merken, dass ich zynisch werde, höre ich mit der Politik auf.
... wie informieren Sie sich eigentlich? Wir beneiden Sie nicht – denn Sie müssen Dinge verstehen und beurteilen, mit denen Sie noch nie zu tun gehabt haben. Wie machen Sie das?
Lesen! Und mich mit anderen austauschen. Bei der Außenpolitik habe ich beispielsweise mit meinem Co-Vorsitzenden Omid Nouripour einen erfahrenen Partner an meiner Seite, der die Ukraine sehr gut kennt. Und natürlich spreche ich mit Experten und Wissenschaftlerinnen oder Unternehmern. Wichtig ist, das nicht zu verwechseln: Wissenschaft kann Politik nicht ersetzen. Ich versuche immer, mit vielen Seiten zu reden und im Austausch zu bleiben. Ich höre gerade dort zu, wo es Kritik oder Widerstand gibt, und habe die Erfahrung gemacht, dass aus dem Dialog mit Kritikern oft die fruchtbarsten Beziehungen entstehen.
Welches Buch fällt Ihnen auf Anhieb ein, das wichtig war für Ihre Entwicklung als Politikerin?
Sehr stark geprägt hat mich „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir.