Rostock-Lichtenhagen: Am Rande der Gesellschaft

Rostock - Am nördlichen Rand der Stadt, am Ende einer schmalen Seitenstraße, zwischen Friedhof und Zoo liegt das Rostocker Asylbewerberheim. 220 Menschen leben hier, darunter 60 Kinder, Platz ist für 285. Steffen Vogt blickt auf eine Schaukel und ein Kletterhäuschen, die im Schatten von Tannen und Birken stehen. „Das Gelände ist schön“, sagt er, dann zeigt er auf die flachen Wohnhäuser, die, bevor die Flüchtlinge einzogen, die Rekruten einer Polizeischule beherbergt haben. „Aber es hat durchaus den Charakter eines Lagers.“

Vogt ist ein hagerer Mann mit langen grauen Haaren, einem dicken Schnauzer und Sandalen. Er ist der Leiter des Heims und Mitbegründer des Vereins Ökohaus, der es seit 2001 betreibt. Die meisten Neuankömmlinge stammen derzeit aus Afghanistan und dem Iran. Sie kommen von der Zentralen Aufnahmestelle hierher, die seit 1995 in der Nähe von Nostorf liegt, einem Dorf an der Grenze von Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die Aufnahmestelle liegt mitten im Wald.

„Lichtenhagen? Kenne ich nicht“

Vor zwanzig Jahren lag die Zentrale Aufnahmestelle mitten in einem Wohnviertel, an der Schnellstraße, die von Rostock in den Ferienort Warnemünde führt. Dann steckten Rechtsextreme die Wohnungen der Asylbewerber am 24. August 1992 in Brand. Zuvor hatten sie das sogenannte Sonnenblumenhaus, in dem die Aufnahmestelle untergebracht war, zwei Tage lang belagert und sich Scharmützel mit der Polizei geliefert. Die Einwohner von Rostock schauten zu, viele haben gejubelt und gebrüllt: „Ausländer raus.“ Das Heim in Lichtenhagen wurde danach geschlossen.

„Lichtenhagen?“, sagt Nurlla. „Kenne ich nicht.“ Er sitzt auf einem Sofa in seinem Zimmer im Asylbewerberheim. Lichtenhagen ist zehn Kilometer entfernt. Nurllas Zimmer ist etwa 15 Quadratmeter groß. Er teilt es mit Hassan. Sie haben sich in Nostorf kennengelernt. Nurlla ist 22 Jahre alt und kommt aus Afghanistan, Hassan ist 31 und Iraner.

Wenn Nurlla erzählen will, warum er hier in Rostock ist, dann schiebt er sein T-Shirt hoch: Eine zwanzig Zentimeter lange Narbe zieht sich längs über seinen Bauch. Sie ist so breit wie ein Daumen. Die Taliban haben seine Familie überfallen, ihm in den Bauch getreten, seinen Vater getötet. „Kaputt“, sagt Nurlla, „alles kaputt.“ Er hat nur wenige Worte für das, was ihm geschehen ist. Drei Monate lang besuchte er einen Deutschkurs. Den Folgekurs habe er nicht machen dürfen. Hassan hat Post-it-Sticker auf die Gegenstände im Zimmer verteilt und ihre deutschen Namen darauf geschrieben: Fenster, Gardine, Kühlschrank, Spiegel.

Heimleiter Vogt fragt die Bewohner nicht, ob sie von Lichtenhagen gehört haben. Er will sie nicht verunsichern, sagt er. Es sei schwierig genug. Die Einfahrt zum Heim steht zwar offen, doch hinter dem Tor beginnt eine abgeschlossene Welt. „Es gibt kaum Kontakt zur Bevölkerung“, sagt Heimleiter Vogt.

Wunsch nach Wohnungen in der Stadt

Für eine Integration wären Wohnungen in der Stadt sinnvoll, eine ganz normale Nachbarschaft. Vogt aber kommt es vor, als wolle man die Flüchtlinge gar nicht integrieren. „Dabei bleiben die meisten in Deutschland“, sagt er. „Wenn man sie einfach nur abstellt, verliert man wertvolle Zeit, in der sie längst Teil der Gesellschaft werden könnten.“

Dafür zuständig ist Stephanie Nelles. Sie ist seit eineinhalb Jahren Integrationsbeauftragte der Stadt. Sie hat Wolfgang Richter abgelöst, der das Amt viele Jahre innehatte. Er war damals im Lichtenhagener Sonnenblumenhaus, als sich draußen der Mob versammelte.

Nelles hat in diesen Tagen viel zu tun. Sie organisiert die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Pogroms. Der Ministerpräsident hat Joachim Gauck eingeladen. Nelles sagt, die Gedenkveranstaltung soll dafür stehen, dass Rostock sich seiner Verantwortung bewusst ist. „Gesicht zeigen“, sagt sie.

Auch Nelles findet, dass das heutige Asylbewerberheim nicht gut gelegen ist. Sie bemühe sich, besonders Familien in Wohnungen unterzubringen. „Aber der Wohnungsmarkt in Rostock ist schwierig“, sagt sie. Also bleiben die Menschen im Heim, durchschnittlich zwei Jahre lang, viele auch länger.

„Eigentlich ist das unhaltbar“, sagt Heimleiter Vogt. 1997 gab es in Rostock bereits einen Versuch, Asylbewerber in der Innenstadt unterzubringen. „Obwohl da der Reflex ist: Das ging hier schon mal schief“, sagt Vogt. Es gab tatsächlich Proteste und Anwohnerversammlungen. Vogt und seine Kollegen machten dann einen Tag der Offenen Tür, verteilten Infoblätter. Es funktionierte. „In vier Jahren gab es nicht einen Übergriff auf die Asylanten“, sagt Vogt. Als Ende der Neunzigerjahre immer weniger Flüchtlinge kamen, wurde das Heim geschlossen. Seitdem hat Rostock nur noch das Heim am Stadtrand.

Nurlla stellt eine Kanne Tee auf den Tisch. „Das Schlimmste ist das Nichts-Tun“, sagt Hassan. Er trägt ein gebügeltes Hemd und eine Leinenhose, die Haare sind mit Gel fixiert. Jeden Tag macht er sich zurecht, als würde er ins Büro fahren, wie im Iran, als er noch in einer Behörde arbeitete, die für das Stromnetz zuständig ist. Er will nicht darüber sprechen, was genau im Iran passiert ist. Nur dass ein Freund dort bereits verhaftet wurde. Hassan sagt: „Ich kann nicht zurück.“

Dreimal wurde sein Antrag, arbeiten zu dürfen, abgelehnt. „Wenn man nichts machen kann, wird man krank im Kopf“, sagt Hassan. Manchmal fährt er in die Innenstadt und geht spazieren. „Aber es macht keinen Spaß, wenn man niemanden kennt, wenn man kein Geld hat“, sagt er – kein Geld, um einzukaufen oder in einem Café zu sitzen. Nurlla sagt, dass die Rostocker nicht feindselig sind. „Aber sie gucken“, sagt er, in der Straßenbahn bleibe der Platz neben ihm oft leer.

No-go-Areas

Steffen Vogt sagt, es komme immer wieder vor, dass Bewohner in der Innenstadt angepöbelt werden; ein Iraker wurde mal mit einem Baseballschläger verprügelt; ein Kollege von Vogt, der aus Togo stammt, wurde am helllichten Tag angegriffen. Das ist ein paar Jahre her. „Aber präsent ist es ständig“, sagt Vogt, „wir haben in Rostock ein Problem mit rechter Gewalt.“ Besonders in der Dämmerung meiden die Heimbewohner manche Orte in Rostock.

Fünf Fälle von rassistisch motivierter Gewalt hat der Opferverband Lobbi im vergangenen Jahr in Rostock protokolliert. 2012 waren es bisher weitere fünf. „Die Dunkelziffer ist hoch“, sagt Lobbi-Mitarbeiter Tim Bleis, „und insgesamt steigen die Zahlen in Mecklenburg-Vorpommern.“ Bleis verfolgt auch, wie die NPD in Rostock immer wieder Stimmung gegen die Asylanten macht, von einem „Wohlfühlpaket für Asylbewerber“ spricht, und vom „wachsenden Asyldruck“. Thomas Jäger, der für die Partei in der Rostocker Bürgerschaft sitzt, sagt: „Eine dezentrale Unterbringung vermittelt Asylbewerbern das Gefühl, sich dauerhaft in Deutschland niederlassen zu können.“ Es ist das ewig gleiche Spiel mit der Angst vor dem Fremden und vor der eigenen Benachteiligung. Wenn man Tim Bleis von Lobbi glaubt, dann führt diese Angst immer häufiger zu Gewalt.

„Es geht um Menschenrechte“, sagt Steffen Vogt, wenn er erzählt, warum er einst anfing, mit Asylanten zu arbeiten, und dass es doch ein Privileg sei, anderen Menschen Schutz zu geben. „Wenn die Ankunft von Flüchtlingen nur als Problem behandelt wird, ist das nicht gut.“

Hassan nimmt einen Schluck Tee, der nach Bergamotte duftet. „Ich mag Deutschland“, sagt er, „alle Menschen sind gleich hier, wenn jemand etwas gut macht, darf er weitergehen.“ Hassan will alles gut machen. Doch im Moment kann er nur warten.