Rozette Kats: „Es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken müssen“

Die Jüdin berichtete im Bundestag, wie sie den Holocaust überlebte. Die Schauspieler Maren Kroymann und Jannik Schümann erinnern an schwule und lesbische Opfer.

Die Schauspielerin Maren Kroymann am Freitag im Bundestag. Sie erinnerte an Mary Pünjer, die von den Nazis ermordet wurde, weil sie lesbisch war. 
Die Schauspielerin Maren Kroymann am Freitag im Bundestag. Sie erinnerte an Mary Pünjer, die von den Nazis ermordet wurde, weil sie lesbisch war. Christian Ditsch/epd

Zwei Fotos von Karl Gorath werden an diesem Freitagvormittag im Bundestag gezeigt. Auf dem ersten ist er 31 Jahre alt und trägt den typischen gestreiften Häftlingsanzug mit Kappe. In die Kamera blickt ein empfindsames Gesicht, körperlich scheint der junge Mann eher schmächtig zu sein. Das zweite Bild zeigt ihn als 77-Jährigen während eines Besuches im Konzentrationslager Auschwitz. Er wirkt jünger, als er ist, doch das täuscht. Karl Gorath hat ein unglückliches Leben, seine Verfolgung ist mit dem Ende der Nationalsozialisten nicht vorbei. Und seine große Liebe endet tragisch. Und das alles, weil er schwul war.

Selbst davon erzählen kann er nicht mehr in der Gedenkstunde des Bundestages zum Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. „Die letzten Überlebenden dieser Gruppe sind verstorben, ohne dass wir sie gehört haben“, hatte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in ihrer Eröffnungsrede gesagt. Und so erzählt der Schauspieler Jannik Schümann das traurige Leben des Klaus Gorath, das  von himmelschreiender Ungerechtigkeit geprägt wurde.

Bereits mit 22 Jahren wird Gorath das erste Mal nach dem berüchtigten Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches verurteilt. Dieser stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe – und das noch bis weit in die Nachkriegszeit. Erst 1994 wird er vollständig gestrichen. Vor Goraths erster Verurteilung 1934 ist der Paragraf von den Nazis noch einmal verschärft worden. Der junge Mann landet im Zuchthaus, später in mehreren Konzentrationslagern. Er überlebt, weil ihn seine Krankenpflegerausbildung vor der harten körperlichen Arbeit bewahrt. Außerdem schafft er es, den rosa Winkel, den er eigentlich tragen muss, gegen einen roten auszutauschen. Wer den rosa Winkel trägt, ist nicht nur vom Wachpersonal, sondern auch von Mithäftlingen besonderen Schikanen ausgesetzt. Im Konzentrationslager Auschwitz trifft er auf zwei Polen. Sie werden die Liebe seines Lebens. Ob sie überlebt haben? Diese Frage beschäftigt ihn bis an sein Lebensende.

Doch erst einmal muss er sich selbst durchschlagen. Er überlebt den Krieg, doch danach wird es für ihn nicht viel einfacher. Denn der Paragraf 175 existiert weiter, bis 1963 sogar in der von den Nazis verschärften Fassung. Ein Jahr nach dem Kriegsende steht er vor demselben Richter, der ihn 1938 verurteilt hatte. Dessen zynischer Kommentar: „Sie sind ja schon wieder hier.“ Gorath muss wieder ins Gefängnis, für fünf Jahre, die er voll verbüßen muss. Später wird ihm diese Haftzeit noch von der Rente abgezogen. Die liegt unter dem Sozialhilfesatz, denn nach der Haftentlassung findet er als Vorbestrafter jahrelang keine Arbeit. Auch die KZ-Jahre werden nicht auf die Rente angerechnet. Begründung: Er sei kein Verfolgter, sondern ein nach Recht und Gesetz Bestrafter gewesen.

Im Jahr 1989 ist er Teil der ersten offen schwulen Gruppe, die nach Auschwitz fährt. Er will vor allem herausfinden, ob seine beiden polnischen Freunde überlebt haben. Die Namen findet er auf einer Todesliste; Gorath ist so erschüttert, dass er sofort allein abreist. Was er bis zu seinem Lebensende nicht erfährt: Beide haben doch überlebt. Einer von ihnen arbeitete sogar als Besucherbetreuer in der Gedenkstätte des KZ Auschwitz. Auch zu der Zeit, als Gorath die Gedenkstätte besuchte. Im Jahr 2003 stirbt Gorath mit 93 Jahren. „Ob du ein bisschen Frieden findest, wenn du nun weißt, dass deine Liebe überlebt hat?“, fragt Schümann in den stillen Saal hinein.

Auch über Mary Pünjer kann die Schauspielerin Maren Kroymann nur Fragen stellen. Kroymann erinnert an die 1942 ermordete Hamburgerin, die im KZ Ravensbrück den schwarzen Winkel tragen musste. Er brandmarkte sie als „Asoziale“. So wurden lesbische Frauen verfolgt, deren Sexualität gesetzlich nicht unter Strafe stand, weil der Paragraf 175 nur Männer erwähnte. Mary Pünjer wurde in eine jüdische Familie hineingeboren und ging eine Ehe ein, die sie nicht schützen konnte. Nur ihr Bruder konnte sich später in die USA retten.

70.000 sogenannte „asoziale“ Opfer hat es in den Konzentrationslagern gegeben, sagt Kroymann. „Erst im Februar 2020 wurden sie als Opfergruppe im Bundestag anerkannt, ein öffentliches Gedenken steht noch aus.“

Was lebenslanges Verstecken heißt, weiß auch Rozette Kats. Sie wurde 1942 in einer jüdischen Familie geboren und überlebte die NS-Diktatur bei einem Ehepaar in Amsterdam, das sie als ihr eigenes Kind ausgab. Ihre leiblichen Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Erst später nahm Kats ihre wahre jüdische Identität an. „Ich erkenne wichtige Gemeinsamkeiten mit meinem eigenen Leben“, sagte sie in ihrer Rede am Freitag im Hinblick auf die Biografien der Schwulen und Lesben.

Auch sie habe sich jahrelang angepasst und gehofft, dadurch geschützt zu sein. Aber es mache Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen. „Jeder Mensch, der damals verfolgte wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung“, sagte sie. „Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, verdient unseren Schutz.“ Kriege und Diskriminierungen seien die schrecklichen Abweichungen, die es zu überwinden gelte.