Russland wurde von der Nato provoziert, oder etwa nicht?

Der Kreml will so gern verhandeln, aber der Westen will Krieg. Ganz klar. Die humoristische Kolumne von Anselm Neft.

Eine Militärkapelle spielt vor dem Kreml. Ein Bild aus dem Jahr 2021.
Eine Militärkapelle spielt vor dem Kreml. Ein Bild aus dem Jahr 2021.Mihail Tokmakov/imago

Dies ist der vierte Teil der humoristischen Kolumne „Finde den Fehler“ von Anselm Neft.

„Russland ist ein friedliebendes Land. Aber wir brauchen keinen Frieden um jeden Preis.“ Besser hätte der OSZE-Botschafter Alexander Lukaschewitsch im Januar 2022 die russische Seele nicht auf den Punkt bringen können. Ähnlich langmütig äußerte sich der russische Außenminister Sergej Lawrow kurz vor Beginn der Spezialoperation in der Ukraine: „Wir haben unsere Schlitten sehr lange vorbereitet, es ist endlich Zeit, loszufahren.“

Generell gutmütig wie ein vom Wodka gewärmter Tanzbär lässt sich der Russe viel gefallen, aber eben nicht alles. Ständiges Nölen und gen Ost erweitern kann auch den behäbigsten Reußen aus der Datscha treiben. Ja, mag sein, dass man völkerrechtlich über die Wiedereingliederung der Krim ins Zarenreich verschiedene Auffassungen haben kann. Vor allem, wenn man sich Tag und Nacht von Nato-Propaganda das Hirn waschen lässt. Und ja, die rund 300 Menschen im abgeschossenen Malaysia-Airlines-Flug 17 waren unter Umständen gar keine anti-russischen Spione, zumindest nicht die 80 Kinder, die vermutlich noch gar keine komplette Geheimdienstausbildung durchlaufen konnten.

Aber muss man deswegen gleich wieder mit „dem Iwan“ schimpfen, als wäre er ein bockiges Kind? Hätte man Russland nicht lieber den Rest der Ukraine anbieten sollen, anstatt auf stur zu stellen und am Maidan Rabatz zu machen? Überhaupt: Was soll diese Unterscheidung von Russland und der Ukraine? Leben nicht hier wie dort Russen, wie Präsident Putin in einem vielbeachteten wissenschaftlichen Aufsatz verkündete?

Ein Aufsatz, der derart bahnbrechend war, dass er am 12. Juli 2021 sogar auf der Website der russischen Regierung publiziert wurde. Lückenlos konnte das historisch bewanderte Staatsoberhaupt in seiner Arbeit nachweisen, dass die Ukraine gar keine eigene Nation und ihre Regierung eine Rasselbande westlicher Verschwörer gegen alles Gute, Wahre und Schöne ist.

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Maren Kaschner
Zum Autor
Anselm Neft, geboren 1973 bei Bonn, studierte abseitige Fächer, schrieb seine Magisterarbeit über zeitgenössischen Satanismus, verschliss Jobs vom Tellerwäscher bis zum Unternehmensberater und lebt heute als freier Autor und Schriftsteller in Hamburg. Dort betreibt er den Literaturpodcast „laxbrunch“ und schreibt Artikel und Bücher. Sein neuester Roman heißt „Späte Kinder“ und ist im Rowohlt-Verlag erschienen. Für die Berliner Zeitung schreibt er die humoristische Kolumne „Finde den Fehler“.

Geheimnis der Echsenmenschen aus der Nato

Was aber tat der Westen, anstatt einfach die Fakten zu akzeptieren? Er wollte mal wieder „drüber reden“, was nichts anderes bedeutet als zersetzendes Infragestellen gottgegebener Gewissheiten aus eigenen niederen Motiven. Überhaupt ist mit dem Westen kein Staat zu machen, wird er doch beherrscht von verweichlichten Schwulen und Pussy-Riot-Fans, die zugleich eiskalte Nazi-Eroberer und durchtriebene hakennasige Verschwörer sind. Auch dem zutraulichsten Russen fällt da das Vertrauen verständlicherweise schwer.

Dennoch hat der Kreml wieder und wieder Verhandlungen angeboten und dabei doch nicht mehr verlangt, als dass der Westen mit seiner heimtückischen Einkreisung des gut 17.000.000 Quadratkilometer großen Landes endlich aufhört und Russland wieder zu der Supermacht werden lässt, die es vielleicht mal vor den 1990ern gewesen sein könnte! So was macht man nicht mit einer Weltmacht, deren Bruttoinlandsprodukt nur knapp hinter dem von Frankreich, Italien oder Südkorea liegt!

Dass Russland sich gegen westliche Truppen in der Ukraine zur Wehr setzen muss, versteht sich von selbst. Dass diese Truppen dort sind, um die Ukraine vor Russland zu schützen, ergibt hingegen keinen Sinn, da die Ukraine ja eigentlich ein Teil Russlands ist.

Genau genommen töten in der „Ukraine“ Russen andere Russen, nämlich Russen, die noch nicht kapiert haben, dass sie Russen sind. Aber ist das denn wirklich so schwer? Geduldig versuchen Lawrow, Putin oder Kremlsprecher Dimitry Peskow es den halsstarrigen Westlern sinngemäß zu erklären: Wir verhandeln sehr gerne, wir mögen keinen Krieg. Lasst uns doch einfach die Ukraine und Schwamm drüber.

Der Westen in seiner Paranoia – eine Projektion der eigenen Eroberungsabsichten! – spinnt sich aber zusammen, die russische Regierung würde dann ihre ach so gierigen Griffel auch noch ins Baltikum oder nach Polen ausstrecken. Wie irgendjemand, der klar bei Verstand ist und etwas Geschichtskenntnis besitzt, darauf kommen kann, wird wohl das Geheimnis der Echsenmenschen aus der Nato bleiben.

Vernünftige Menschen

Zum Glück gibt es auch im Westen vernünftige Menschen, denen Frieden wichtiger ist als Eskalation und Beharren auf einem eigenen, undurchdachten Standpunkt. Sie wissen, dass Putin und der gesamte Kreml vernünftige und im Kern sensible Menschen sind, die nur mit Augenmaß und Realitätssinn verhandeln wollen. Oder eben einen Atomkrieg anfangen, wenn man sie weiter reizt. Aber auch das hat sich der Westen dann selbst zuzuschreiben.

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