Manila-Als Berto Trinidad in seine Heimat zurückgeschickt wurde, musste er seinem vierjährigen Sohn John Kline in Manila vorgestellt werden. Der kleine Junge war nur wenige Monate alt gewesen, als Trinidad nach Kuwait ging, um dort eine Stelle als Elektriker auf einer Baustelle anzunehmen.
„Meine Frau sagte immer wieder zu ihm ‚Das ist dein Papa‘, doch er weigerte sich, mir näherzukommen. Es tat weh, dass mein eigener Sohn mich nicht kannte“, sagt Berto Trinidad, 45 Jahre alt.
Dies war der erste von zahlreichen herzzerreißenden Momenten für Trinidad. Man hatte ihn in seine philippinische Heimat zurückgeschickt, nachdem seine Baufirma aufgrund von Lockdown-Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schließen musste. Erst als John Kline an diesem Abend eingeschlafen war, konnte Trinidad sein jüngstes Kind in die Arme nehmen. Überwältigt von Emotionen brach der Vater in Tränen aus. Die Erleichterung darüber, wieder mit der Familie vereint zu sein, während weltweit eine Pandemie um sich griff, wurde überschattet von Angstgefühlen.
„Zunächst war ich so glücklich, wieder bei meiner Familie zu sein. Doch dann traf mich der Gedanke wie ein Schlag. Als Wanderarbeiter war ich dreizehn Jahre lang unterwegs gewesen, und nun hatte ich plötzlich keine Arbeit mehr. Wie sollte ich jetzt meine Familie ernähren?“, berichtete er.
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Wegen der Pandemie haben viele Arbeitsmigranten ihre Jobs verloren
Es war ein bittersüßes Wiedersehen für die schätzungsweise 400.000 philippinischen Arbeitsmigranten, die wie Trinidad in ihre Heimat zurückkehren mussten, nachdem der Ausbruch der Pandemie Volkswirtschaften in aller Welt zum Erliegen gebracht hatte.
Viele von ihnen verloren von einem Tag auf den anderen ihren Arbeitsplatz. Aus Angst vor Ansteckung und Unsicherheit darüber, welche Gesundheitsversorgung sie angesichts ihres Status als temporäre Migranten erhalten würden, kehrten die philippinischen Arbeiter und Arbeiterinnen Hals über Kopf in ihre Heimat zurück.
Dort angekommen, wurde das tröstliche Gefühl, nach monatelanger Trennung wieder mit der Familie vereint zu sein, bei manchen von persönlichen Enttäuschungen und bei vielen von wirtschaftlicher Unsicherheit überschattet.
Die bereits über ein Jahr andauernden wechselnden und vielfach widersprüchlichen Lockdown-Beschränkungen konnten nur wenig dazu beitragen, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Und die Einführung von Impfprogrammen erfolgte zu schleppend, um mit den steigenden Infektionszahlen und dem Aufkommen neuer und ansteckenderer Varianten Schritt zu halten. Bis Anfang Juni wurden rund 1,3 Millionen Infektionsfälle registriert und damit die zweithöchsten Fallzahlen in Südostasien.
Die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1970er-Jahren
Traditionell tragen die Rücküberweisungen der nahezu 10 Millionen philippinischen Arbeitsmigranten aus aller Welt mit etwa acht Prozent zum Bruttoinlandsprodukts des Landes bei. Allerdings verzeichnete die philippinische Zentralbank für 2020 einen Rückgang dieser Rücküberweisungen um nahezu 840 Millionen US-Dollar, nachdem Tausende von Arbeitsmigranten in ihre Heimat zurückgekehrt waren.
In einem Teufelskreis aus Lockdown-Maßnahmen, durch die nahezu drei Viertel der Wirtschaft lahmgelegt wurden und fast die Hälfte der erwerbstätigen Erwachsenen ihren Arbeitsplatz verlor, werden die Philippinen von der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1970er-Jahren erschüttert.
Genau in diesem Spannungsfeld zwischen globaler Gesundheitskrise und wirtschaftlichen Turbulenzen finden sich die Arbeitsmigranten nun wieder. Nach Angaben von Arbeitsrechtsorganisationen haben sie mit Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche zu kämpfen, weil auf den lokalen Arbeitsmärkten keine Nachfrage nach den Qualifikationen besteht, die sie während ihrer Tätigkeit im Ausland erworben haben. Wegen ihrer Arbeit haben die Auslands-Filipinos die jahrelange Trennung von ihren Familien auf sich genommen und geraten nun erneut in genau die finanziellen Schwierigkeiten, denen sie einst entkommen wollten.
„Die größte Sorge bereitet den OFWs (Overseas Filipino Workers, philippinischen Arbeitskräften im Ausland) der plötzliche Wegfall ihrer Existenzgrundlage. Viele von ihnen, auch wenn sie bereits 10 bis 15 Jahre im Ausland tätig waren, konnten sich nicht auf diese Situation vorbereiten“, berichtet Joanna Concepcion, Vorsitzende der Arbeitsrechtsorganisation Migrante International.
Im vergangenen Jahr führte der Migrations-Thinktank Scalabrini Migration Center eine Umfrage unter 285 zurückgekehrten Arbeitsmigrantinnen und -migranten durch, die in verschiedenen Sektoren, darunter Bauwesen, Haushaltsarbeit und Gaststättengewerbe, tätig waren. Insgesamt 46Prozent der Befragten gaben an, die Alleinverdiener in ihren Familien zu sein, und mehr als die Hälfte sagte, dass sie keine Ersparnisse für den Notfall zurückgelegt hätten.
Laut einer Studie der London School of Economics laufen die Familien von Arbeitsmigranten, die den familiären Lebensunterhalt sichern und dann ihren Arbeitsplatz verlieren, Gefahr, erneut in die Armut abzurutschen.
Die Regierung hat die Zahlung einer einmaligen Finanzhilfe in Höhe von 200 Dollar für rückkehrende Arbeitsmigranten gewährt. Darüber hinaus solle die mit der Pandemie verbundene finanzielle Belastung nach Angaben von Hans Cacdac, Leiter des Arbeitsamts für philippinische Arbeitskräfte im Ausland (Overseas Workers Welfare Association), durch existenzsichernde Leistungen und ein Programm zur Beschäftigungsförderung abgemildert werden. Angesichts der Tatsache, dass die Pandemie weiter um sich greift und kein Ende abzusehen ist, werden zudem Sofortmaßnahmen wie Umschulungen, Finanzhilfen und zinsgünstige Darlehen gefordert.
Exportierte Arbeitskräfte, getrennte Familien
Die Philippinen gehören zu den weltweit größten Exporteuren von Arbeitskräften. Mehr als zehn Millionen Filipinos arbeiten im Ausland, etwa die Hälfte von ihnen im Rahmen von befristeten Arbeitsverträgen: auf Baustellen, in Privathaushalten zur Betreuung von Kindern und alten Menschen oder als Seeleute auf Frachtschiffen, die Waren über die Ozeane transportieren. Aufgrund von Arbeits- und Vertragsbedingungen und Niedriglöhnen ist es ihnen nicht möglich, ihre Familien zu sich zu holen.
Transnationale Erziehung durch Eltern, die versuchen, ihre Kinder von einem anderen Land aus aufzuziehen, sind für etwa 25 Prozent der Kinder in den Herkunftsländern der Arbeitsmigranten die Regel.
Aufgrund zahlreicher Faktoren liegen keine verlässlichen Daten über die Anzahl der philippinischen Kinder vor, deren Eltern Arbeitsmigranten sind. In zahlreichen Studien wird die Zahl der Kinder, von denen ein oder beide Elternteile im Ausland arbeiten, allerdings auf drei bis neun Millionen geschätzt.
In den 1970er-Jahren starteten die Philippinen ein staatlich gefördertes Migrationsprogramm, um vom Arbeitskräftebedarf auf dem internationalen Markt zu profitieren und inländische Beschäftigungslücken zu schließen. Philippinische Männer packten ihre Koffer und gingen zur Arbeit in den Nahen Osten. Ihre Frauen blieben derweil zu Hause und übernahmen in der Familie die Doppelrolle der Mutter und des Vaters.
Viele philippinische Frauen gingen als Arbeitskräfte ins Ausland
Zwei Jahrzehnte später kam es zu einer weiteren Welle der Arbeitsmigration. Als in den Industrieländern angesichts einer alternden Bevölkerung und einer zunehmenden Zahl berufstätiger Mütter der Bedarf an Pflegekräften und Kindermädchen stieg, begaben sich auch philippinische Frauen als Arbeitskräfte ins Ausland. Derzeit machen Frauen wie die 32 Jahre alte Grace Enicito mehr als die Hälfte der philippinischen Arbeitsmigranten aus.
Enicito verließ ihre Heimat 2013 für eine Arbeit als Haushaltshilfe. Damals versprachen die Wüsten Saudi-Arabiens mehr wirtschaftliche Stabilität als die Arbeit in einer Thunfischfabrik im Süden der Philippinen.
„Ich hatte Glück. Mein Boss war von einer philippinischen Nanny großgezogen worden und sehr freundlich zu mir.“ Während Enicito in Saudi-Arabien wie ein Familienmitglied behandelt wurde, entfremdete sie sich immer mehr von ihrem Ehemann und ihren beiden Töchtern in der Heimat. Ihre lange Abwesenheit zeigte sich in den Kleinigkeiten, die sie von ihren beiden Kindern, der 16 Jahre alten Yhen und der zwölf Jahre alten Alan, nicht wusste.
„Ich wusste nicht, wer ihre Freunde und Freundinnen waren. Ich wusste nicht, wie ich ihre Lieblingsgerichte kochen sollte“, berichtet Enicito. „Es war, als seien wir Fremde, die einander noch einmal neu kennenlernen mussten. Ich bin ihre Mutter, doch es fühlte sich an, als sei ich lediglich die Frau, die ihnen Geld schickte.“
Dank technischer Möglichkeiten können Arbeitsmigranten inzwischen besser mit ihren Familien in Kontakt bleiben. Eltern wie Trinidad und Enicito ziehen ihre Kinder über den Bildschirm ihrer Mobiltelefone groß. Sie erziehen ihre Kinder aus der Ferne und verfolgen wichtige Lebensereignisse wie Schulabschlüsse und Geburtstage aus der Distanz.
Für Arbeitsmigrantinnen mit Kindern stellen konservative Geschlechterrollen, nach denen der Mutter bei der emotionalen Fürsorge ihrer Kinder die Hauptaufgabe zufällt, eine zusätzliche Belastung dar, wenn sie fern der Heimat ihrer Arbeit nachgehen. In einer Studie über transnationale Familien berichtet die Soziologin Asuncion Fresnoza-Flot, dass mit der Migration die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter sogar noch gestiegen seien.
Die Langzeitfolgen der Pandemie
Experten warnen vor den Langzeitfolgen der Wirtschaftskrise, die mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auf die Migration verbunden sind. Sie gehen davon aus, dass es in den meisten Sektoren, die auf Arbeitsmigranten angewiesen sind wie der Tourismus, das Bauwesen und die Produktion, lange dauern wird, bis wieder ein Arbeitskräftebedarf wie in Zeiten vor der Pandemie erreicht werden kann.
„Angesichts eines anhaltenden weltweiten Konjunkturabschwungs müssen Arbeitsmigranten ihre Strategien zur Sicherung ihres Lebensunterhalts überdenken. Beschäftigungsmöglichkeiten für diese Menschen werden ab sofort nicht mehr nur der Logik von Angebot und Nachfrage folgen. Auch Gesundheitsfaktoren werden eine wichtige Rolle spielen“, sagt Marla de Asis, Leiterin des Scalabrini Migration Center in den Philippinen.
Nach Aussagen von Erwin Puhawan, Managing Trustee der Arbeitsrechtsorganisation Kanlungan Centre Foundation, muss die Regierung die derzeitige Rechtslage und politische Strategien im Bereich der Arbeitsmigration überdenken. „Arbeitsmigranten müssen in diesen Prozess integriert werden. Ihre Meinungen müssen Gehör finden. Immerhin wird da über ihr Leben entschieden“, bemerkt Puhawan.
Schon jetzt warten Trinidad und Enicito darauf, dass die Reisebeschränkungen gelockert und die Arbeitsmärkte geöffnet werden, damit sie sich um einen neuen Job in einem anderen Land bemühen können.
Beide haben seit ihrer Rückkehr in die Philippinen die bisher längste Zeit ihres Lebens mit ihren Familien verbracht – und die bisher längste Zeit ohne festes Arbeitsverhältnis. Berto Trinidad hält seine Familie mit Arbeiten auf einer Baustelle über Wasser, während sich Grace Enicito mit Gelegenheitsjobs herumschlägt.
Sie – und auch ihre Familien – beginnen die Folgen der Wirtschaftskrise zu spüren.
Als die Schulen wegen der Quarantänevorschriften geschlossen werden mussten und der Unterricht nur noch online durchgeführt werden konnte, hatte Trinidad nicht das nötige Geld, um seinen beiden älteren Kindern einen Laptop zu kaufen. „Sie nehmen über ihre Mobiltelefone am Online-Unterricht teil. Das ist nicht leicht, weil der Bildschirm zu klein ist. Meine Frau und ich haben ihnen vorgeschlagen, den Schulunterricht in dieser Zeit auszulassen, doch das wollten sie nicht“, berichtet er. „Wenn ich ein besseres Leben für meine Familie will, muss ich fortgehen.“
Ana P. Santos wird beim Kultursymposium Weimar des Goethe-Instituts, das am Mittwoch und Donnerstag digital stattfindet, auf einem Panel zum Thema Generationenverträge mitdiskutieren. Die Veranstaltung findet an diesem Mittwoch um 15 Uhr statt. Alle Online-Debatten, Interviews und digitalen Performances des Symposiums mit prominenten Stimmen, die sich aus der gesamten Welt live zuschalten, auf: goethe.de/kultursymposium