Selbst denken, eine Zumutung? Ein Lernprozess in den Krisen unserer Zeit

Wir sollen uns auf die Hitze vorbereiten und auf den Gasmangel, uns vor Corona und dem Klimawandel schützen. Panik? Eine Gesellschaft wird erwachsen.

Hitze? Sonnenschutz! Logisch, oder?
Hitze? Sonnenschutz! Logisch, oder?dpa/Christoph Soeder

Es ist heiß. „36 Grad, und es wird noch heißer“, man fühlt sich an diesen Song des Berliner Elektropop-Duos 2raumwohnung Anfang der 2000er-Jahre erinnert. Der Deutsche Wetterdienst warnt vor der Hitze: lieber drinnen bleiben.

Allerdings sind wir schon vorgewarnt worden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat schon in der vergangenen Woche von einer Mega-Hitzewelle mit vielen Toten gesprochen, als es noch erstaunlich kühl für Mitte Juli gewesen ist. Da ist ihm dann Panikmache vorgeworfen worden.

Allerdings scheint Lauterbach ja genau so ein Verständnis von seiner Rolle in der Politik zu haben. Er will ein Warner sein. Einer, der immer mit dem Schlimmsten rechnet. Hitzewelle, Corona-Welle, schlimmer Sommer, schlimmer Herbst. Ob die Leute das immer hören wollen, ob sie nach einer Weile überhaupt noch hinhören oder die Gewöhnung an die immer schlimmstmöglichen Szenarien im Volk vielleicht genau umgekehrt Lethargie und Teilnahmslosigkeit zur Folge hat, scheint ihn nicht zu sorgen. Lauterbach ist die Kassandra der deutschen Politik.

Nun ist es aber tatsächlich heiß und wir suchen kühle Orte auf, sitzen im Schatten oder im Durchzug, bewegen uns möglichst wenig in der Mittagshitze und verbringen diese Stunden lieber drinnen als draußen. Das können wir. Wir können auch selbst aufs Thermometer schauen und uns danach richten. Wir sind erwachsene, mündige Bürger.

Allerdings wurden wir bisher nur sehr selten als solche behandelt. Ein Gesundheitsminister, der uns sagt, wie das Wetter wird, ist ja nicht das einzige Beispiel. In der Corona-Pandemie haben wir auf den Impfstoff gewartet. Logisch. Aber das war nicht das Einzige. Er wurde nicht einfach zugelassen und damit den Ärzten und so auch dem Volk zur Verfügung gestellt. Es gab Empfehlungen von der Politik. Für den richtigen Zeitpunkt der ersten, zweiten, dritten Impfung. Aktuell empfiehlt Lauterbach die vierte und sagt, für wen. Um Knappheit geht es nicht mehr.

Deutsche autoritär strukturiert?

Wir brauchen das offenbar. Diese Ansagen. So sind wir Deutschen vielleicht. Autoritär strukturiert. Wir haben es gern, wenn jemand vorne steht und uns die Verantwortung abnimmt wie bei kleinen Kindern. Es reicht nicht, dass uns Politik und Experten Informationen zur Verfügung stellen, damit wir selbst entscheiden können. Wir lieben es, wenn jemand sagt: Mach das mal. Dann brauchen wir nicht selbst denken, uns entscheiden und die Konsequenzen tragen. Wir haben keine Verantwortung, wenn es die falsche Entscheidung war.

Das ist typisch deutsch. Im Vergleich zu unseren nördlichen und westlichen Nachbarn sind wir hierzulande vielleicht ein bisschen zurückgeblieben. Wir verweigern uns einer Mündigkeit, die wir angesichts unserer Bildung und des ganzen liberalen Geistes sehr gut tragen könnten.

Oder ist das ein Klischee?

Gerade überlagern sich mehrere Krisen gleichzeitig. Wir müssen gegen die Hitze vorsorgen und gegen die kommende Kälte im Winter. Die Gleichzeitigkeit verwirrt viele, als ob man nicht beides gleichzeitig denken könnte. Dabei ist die Antwort sogar in diesem Punkt dieselbe: Häuser isolieren und Wärmetauscher einbauen.

Man muss einfach etwas tun. Informationen sammeln und eine Entscheidung treffen. Wer in der Hitze nicht umkommen will, sollte bei 40 Grad nicht in der Sonne sitzen. Wer seine Gasrechnung im Griff behalten will, wird die Heizung runterdrehen müssen oder seine Heizanlage optimieren beziehungsweise den Vermieter dazu bringen.

Paternalistische Politik

Aber so lief es bisher nicht. Und aktuell stellt sich die Frage, ob wir Deutschen wirklich so sind oder ob die Politik uns paternalistisch behandelt und damit das Erwachsenwerden erschwert.

Anstatt von ganz allein auf Autobahnen langsamer zu fahren, um in Zeiten hoher Benzinpreise Kosten zu sparen, warten manche vielleicht auf ein Tempolimit. Sie haben die Geschwindigkeit nicht fürs Klima und nicht angesichts Tausender Unfalltoter reduziert. Warum also jetzt? Allerdings fahren ja viele durchaus langsamer oder holen das Fahrrad aus dem Schuppen und kaufen ein 9-Euro-Ticket.

Die Politik will uns immer wieder retten, erst mit Tankrabatten und Entlastungspaketen und bald mit noch mehr Geld. Der Einzige, der den Stil geändert hat, ist Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der die Lage und seine Vorschläge erklärt und uns auffordert, etwas Vernünftiges zu tun: Jede Kilowattstunde zählt. Habeck behandelt die Bürger wie Erwachsene.

So sollte es sein. Selbst handlungsfähig sein macht anpassungsfähig. Das ist nicht nur angenehm. Es hat mit Verantwortung zu tun, die man selbst tragen muss. Deutschland 2022. Eine Gesellschaft lernt, selbst zu denken. Dafür ist es nun endlich an der Zeit.