Halleluja Halle: Unter dem DDR-Grau kam eine echte Stadt hervor

Hauptstadt des Chemiebezirks – das war eine Episode in 1200 Jahren Geschichte einer Stadt, die heil durch den Krieg kam. Teil 2 unserer Serie über die DDR-Bezirkshauptstädte.

Marktplatz in Halle mit Händel-Denkmal, Rotem Turm und der viertürmigen Marktkirche Unserer Lieben Frauen.
Marktplatz in Halle mit Händel-Denkmal, Rotem Turm und der viertürmigen Marktkirche Unserer Lieben Frauen.imagebroker/imago

Zuerst das Ost-Klischee, damit es schnell erledigt ist: Halle an der Saale, die Graue Diva, die „Stadt der Chemiearbeiter“, eintönige Plattenbauten, so weit das rasch ermüdete Auge reicht. Ein Eckpunkt im Mitteldeutschen Chemiedreieck Bitterfeld–Halle–Leuna/Buna. Tatsächlich gehörte die ab 1964 errichtete Plattenbaugroßsiedlung zu DDR-Zeiten gar nicht zu Halle.

Ha-Neu, Halle-Neustadt, war eine eigene Kommune. Und dort fanden mehr als 90.000 Menschen Wohnungen mit Vollkomfort, also Fernheizung, Warmwasser aus der Wand sowie Kindergärten, Schulen und Kaufhallen. Da mag der Westler spotten, wie er will, die Leute waren froh damit und kamen gut zur Arbeit.

Die DDR-Bezirkshauptstädte: Hier geht es zur interaktiven Karte!

In Halle Alt sah der Mensch die Stadt vor lauter grau-brauner Bröckelfassaden nicht mehr. Ein Haus mit düsterer Restfassade reihte sich an das andere. Das große Glück Halles, als einzige ostdeutsche Großstadt fast unversehrt durch den Krieg gekommen zu sein, schlug in ein Unglück um: Die nachkriegsklamme DDR spürte dort noch weniger Sanierungsdruck als anderswo. So verwandelte sich das größte erhaltene Stadtzentrum weit und breit im Lauf von 40 Jahren Vernachlässigung zum traurigen Beispiel für „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Die Wende und die West-Milliarden der Aufbauhilfe Ost kamen als Rettung im letzten Moment vor dem Zerfall.

„Der Standort pfiff auf dem letzten Loch“

Aber so schnell rückten die Bau- und Restaurierungskolonnen nach 1990 auch nicht an. Denk ich an Halle in den 1990ern, dann kommen in den Sinn: Arbeitslosigkeit mit Rekordwerten um 18 Prozent, dramatische Abwanderung (das nun eingemeindete Ha-Neu verlor die Hälfte aller Einwohner), rechtsradikale Gewalt. Das schlug aufs Gemüt.

Wann hat das eigentlich aufgehört? Spätestens 2006 mit der 1200-Jahre-Feier Halles, meint Isabel Hermann, Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt. Die Statistik legt die Jahre 2008 bis 2010 nahe, als die Zahl der Arbeitslosen unter zehn Prozent fiel. Der Stadthistoriker Gerrit Deutschländer sieht das Saale-Hochwasser im Jahr 2013 als einen wichtigen Wendepunkt: In der 1990ern seien viele Hallenser selbst nicht gut auf ihre Stadt zu sprechen gewesen, „der Industriestandort pfiff auf dem letzten Loch“, dann sei mit den Haussanierungen das Grau geschwunden, und „die Bewältigung der Flutfolgen schweißte schließlich zusammen“, sagt der Mittelalterspezialist.

Das Graseweghaus sollte 1976 abgerissen werden. 1985 kam der Abriss-Stopp, man wollte sanieren. Jetzt ist es in aller Herrlichkeit saniert.
Das Graseweghaus sollte 1976 abgerissen werden. 1985 kam der Abriss-Stopp, man wollte sanieren. Jetzt ist es in aller Herrlichkeit saniert.Imago

Der Wissenschaftler hat Jahrhunderte Stadtgeschichte im Blick – Halle ist immerhin mehr als zwölf Jahrhunderte alt. Vor dieser Kulisse und mit inzwischen 33 Jahren Abstand zurückgeschaut, erscheinen die 40 Jahre DDR, 28 Jahre mit Mauer, perspektivisch immer kürzer. Als Halle im Jahr 806 erstmals erwähnt wurde, flackerte am Ufer der Spree, wo 400 Jahre später die ersten Berliner Erdhütten entstanden, höchstens mal ein slawisches Lagerfeuer. Leipzig tauchte knapp 100 Jahre nach Halle auf.

Magdeburg allerdings darf sich die älteste der drei Schwestern nennen – und Kaiserstadt der Ottonen dazu. Den Magdeburger Kardinal Albrecht (1513–1545) kennt jeder Hallenser, denn der wollte seine Residenzstadt Halle mit der Moritzburg zum katholischen Bollwerk gegen den von Wittenberg her vordringenden lutherischen Protestantismus ausbauen.

Der Löwenplatz auf dem Campus der Martin der Luther Universität Halle – Wittenberg
Der Löwenplatz auf dem Campus der Martin der Luther Universität Halle – WittenbergImago

Die Rivalität zwischen Halle und Magdeburg, beide DDR-Bezirkshauptstädte, brach noch einmal mit Macht auf, als 1990 eine Kapitale für das neue Bindestrich-Land Sachsen-Anhalt bestimmt werden musste. Nur fünf Jahre hatte es ein Land dieses Namens schon einmal gegeben, zwischen 1947 (Auflösung Preußens) und 1952 (Bildung der DDR-Bezirke) – und Halle war die Hauptstadt. Man wählte Magdeburg.

Mit Sachsen-Anhalt ist es bis heute ein Kreuz. Die meisten Leute wissen ja nicht einmal, wie das Adjektiv richtig zu bilden ist. Anhaltisch? Anhaltinisch? Wissen Sie es? Auflösung später. Aber der Landeshistoriker Michael Hecht verweist zuversichtlich auf die langen Linien: „Das ist nur eine Frage der Zeit.“ Der Landesvater Sachsen-Anhalts, Reiner Haseloff (CDU), promovierter Physiker und wie sein Vorgänger Wittenberger, hält jedenfalls viel von Landesgeschichte als Identitätsressource.

Es ist also durchaus sinnstiftend gemeint, dass es seit 2021 wieder ein Landesgeschichtliches Institut gibt, angebunden an das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie und ausgestattet mit vier wissenschaftlichen Stellen. Michael Hecht, gebürtiger Hallenser, leitet das Institut. Er ist wieder heimgekehrt, nach Jahren im Westen, weil es nach der Wende in der Region „einfach keine Stellen für junge Wissenschaftler“ gab. Ebenso ging es seinem Kollegen Gerrit Deutschländer, auch er Hallenser und nun im Institutsteam.

Ein anderes Bindestrich-Verhältnis funktionierte schon lange, bevor Sachsen-Anhalt seine Ministerpräsidenten aus Wittenberg holte: die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die erste Vorläuferin entstand vor mehr als 500 Jahren in Wittenberg, 1694 dann die Alma mater halensis. Zehn Prozent der heute etwa 240.000 Einwohner Halles sind Studenten. Und das sieht und spürt man.

Halle – Stadt der Jugend

Die jungen Leute haben die alten Orte in Beschlag genommen. „Halle ist noch nicht fertig, bietet Räume für kreative Entfaltung“, sagt Isabel Hermann. Es gibt vielfältige Clubs und eine innovative Musikszene – ganz zu schweigen vom unfassbar günstigen Wohnraum. Fast alles ist mit dem Fahrrad erreichbar, überall fahren Straßenbahnen. In zehn Minuten gelangt man aus der Stadtmitte ins Grüne, an die Saale. Halb Halle zieht am Wochenende auf die Peißnitzinsel.

Aber zurück zur Stadt, der Hauptperson und eigentlichen Überraschung. Wer ein paar Jahre nicht da war, erkennt Halle nicht wieder. Mit den Sanierungen kamen wieder Häuser aus allen Jahrhunderten und Stilepochen zum Vorschein: zauberhaftes Fachwerk, voran das Haus im Graseweg von 1524, elegante Renaissance, prächtiges Barock, Gründerzeit mit Historismustürmchen, Erkern und Stuck, feiner Jugendstil, robuste Zwanzigerjahre wie der Ratshof am Markt, verblüffend schickes Bauhaus und hier und da die „angepasste“ DDR-Platte. Einmal im Kreis gedreht – und man hat die schönste Koexistenz der Jahrhunderte im Blick. Das findet man so schnell nicht wieder in Deutschland: alle Schichten einer gewachsenen europäischen Stadt.

Kopf hoch beim Spazieren

Es heißt also Kopf hoch beim Spazieren. Nicht die Schaufenster interessieren, sondern die Architekturdauerausstellung obendrüber – weder Puppenstube noch Schickimicki. Halle hat es ohnehin nicht so mit dem Luxus. Außer, wenn es um Kultur und Bildung geht.

Welche Stadt dieser Größe bietet ein solches Paket wie die Bühnen Halle: die Oper, das Ballett, die Staatskapelle, das Neue Theater, das Puppentheater, das Thalia Theater, die Kunsthochschule Burg Giebichenstein, das Landesmuseum für Vorgeschichte mit der Himmelsscheibe von Nebra als Weltsensation. Und weil der große Georg Friedrich Händel gebürtiger Hallenser ist, gibt es alljährlich das Händelfestival und ein glorioses „Halleluja, halleluja, halleheluja“ auf Halle.

Wem das nicht reicht, der ist in einer halben Stunde bei Bach in Leipzig, im Gewandhaus, in schicken Läden. Oder in einer ICE-Stunde in Berlin, nach etwas längerer Fahrt auf (neuen, schnellen) Gleisen am Rennsteig, in den Alpen oder an der See. Spitzenmöglichkeiten auf mittlerer Höhe in Mitteldeutschland.

Seit ein paar Jahren taucht dieser alte, jahrzehntelang fast vergessene Kulturraum zwischen Wittenberg, Dessau, Halle, Erfurt, Jena und Weimar wieder auf: territorial wie historisch kleinteilig mit seinen ineinander verschobenen Fürstentümern. Die sprichwörtliche Kleinstaaterei brachte allerdings auch die schönste kulturelle Vielfalt hervor – als Zugabe zu Luther, Cranach, Bach, Händel und Goethe, also jenen Größen, auf denen Deutschland ruht. Aus diesem Raum kommt mit Luthers Bibel die deutsche Sprache, hier entstanden der Faust und die Matthäuspassion. Nur ignorant-arrogante Metropolen reden da von Provinz.

In Halle leuchtete die Welt der Aufklärung früh und hell. Schon 1698 gründete der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke eine Armen- und Waisenanstalt, eine Schulstadt für 2500 bildungshungrige Kinder. Als traurig-verfallener Gebäuderiegel stand die einzigartige pädagogische Zweckarchitektur vor 1991 auf scheinbar verlorenem Posten, heute erstrahlt sie herzerwärmend schön saniert in Weiß. 50 verschiedene Bildungseinrichtungen haben sich mittlerweile im wiederbelebten Areal der Franckeschen Stiftungen niedergelassen.

Hansestadt Halle

Anders als diese Prachtstücke ist der graue Kasten mit Glasscheibe auf dem Markplatz leicht zu übersehen. Doch er lenkt den Blick ein paar Meter in die Tiefe, zum Urgrund der Stadt, zur Halleschen Marktplatzverwerfung – zum Salz. Die hier verlaufende geologische Bruchstelle lässt salzhaltiges Wasser in obere Schichten treten. Jahrtausendelang nutzen Menschen das begehrte Produkt, es machte die Pfänner und die Halloren, also die Siedeunternehmer und ihre Salzwirker, reich und Halle zum Mitglied der Hanse.

Heute ist die Universität Halles der größte Arbeitgeber. Es gibt neben den Hallensern immer mehr Hallunken (mit Doppel-L). Das sind die Zugezogenen, denn die Bevölkerung wächst. Dieser Tage fiebert man der Entscheidung entgegen, ob Halle Standort des von der Bundesregierung geplanten Zukunftszentrums für Transformationsforschung wird – Halle gehört zu den letzten fünf Kandidaten. Hier wissen sie jedenfalls, wie ein Gemeinwesen sich aufrappelt.

Bleibt die Schreibfrage. Berliner könnten die Lösung kennen. Sie haben ja nicht nur das Hallesche Tor, sondern auch den Anhalter (nicht anhaltinischen) Bahnhof. Halle an der Saale mit seinen Hallensern, Halloren und Hallunken ist eine sachsen-anhaltische Stadt.


Neue Serie: Die Bezirkshauptstädte der DDR. Von Zeit zu Zeit sieht man sie ganz gern, die Karte der DDR. Der Umriss der früheren, streng umgrenzten Heimat vermag tatsächlich noch Emotionen auszulösen. 14 Bezirke lagen darin – mit Hauptstädten ganz verschiedener Persönlichkeit. Was machte sie damals aus? Was ist aus ihnen geworden? Die Berliner Zeitung begibt sich auf Erkundungstour.

Grafik: Mónica Rodríguez/Berliner Zeitung