Berlin-Stell dir vor, die Sonne strahlt vom blauen Himmel und niemand ist am Ostseestrand. Auf Rügen, Hiddensee und Usedom ist das derzeit normal, zumindest an den Wochentagen. Seit die Schweriner Landesregierung am 18. März die Landesgrenzen geschlossen hat, dürfen nur noch Tagesausflügler aus Mecklenburg-Vorpommern auf die Ostseeinseln. Unter der Woche nutzt das kaum jemand aus. Und so überqueren an einem sonnigen Frühlingstag in dieser Woche nur wenige Autos die Rügen-Brücke über den Strelasund bei Stralsund. Biegt man hinter der Brücke von der Bundesstraße B 96 auf die „touristische Nebenstrecke“ ab und durchquert die Dörfer und kleinen Städte der Insel, ist man zeitweise ganz allein unterwegs. Die wenigen Menschen auf den Straßen starren jedem vorbeifahrenden Auto mit auswärtigem Kennzeichen nach, als wären sie überrascht, dass es da draußen noch eine andere Welt gibt.

Im Ostseebad Binz kurvt ein Postauto durch die fast menschenleere Einkaufsstraße, die sonst nur so wimmelt von Spaziergängern. An einem normalen sonnigen Frühlingstag wäre hier gerade mal Schritttempo möglich. Ein Junge auf seinem umgebauten Hoverboard jagt seinem Fahrrad fahrenden Vater davon. Ein Liebespaar küsst sich innig mitten auf der Straße. Zwei Bauarbeiter, die gerade den Bürgersteig vor einem Textilladen aufreißen, schauen hinüber. Dass hier und da in der Hauptstraße von Binz gebuddelt wird, stört niemanden – die Geschäfte, Hotels, Cafés und Restaurants sind eh zu. An einer Hotelfassade preist ein Plakat „Hotelsuiten als Kapitalanlage mit garantierten Mieteinnahmen“ an. Nun ja. Und unten am Strand liegt die Seebrücke verlassen da. Nur wenige Menschen laufen am Wasser entlang, allein oder zu zweit. Selbst die Möwen scheinen verschwunden. Wo keine Menschen, da keine Essensreste.
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Wie im Winterschlaf
„Ich vergleiche die Situation immer mit dem Winterschlaf: Man wacht auf und erwartet grüne, saftige Weiden – doch es liegt immer noch Schnee.“ Knut Schäfer macht eine Pause, fast so, als stehe vor einem Saal voller Menschen und warte auf Applaus für seinen – etwas hinkenden – Vergleich. Doch der 42-jährige Vorstandsvorsitzende des Tourismusverbandes Rügen sitzt in seinem einsamen Büro daheim am Telefon. Es ist Corona-Zeit, und da ist die zwischenmenschliche Kommunikation auf Deutschlands größter Insel unpersönlicher als üblich. Auch Journalisten stehen vergebens vor der verrammelten Tür zum Sitz des Verbandes in Putbus. Ein wenig Trost verheißt ein Bratwurststand auf dem zur Mittagszeit fast menschenleeren Markt. Wie viele Kunden waren heute schon am Stand? Der Wurstbrater zuckt mit den Schultern. „Zwanzig vielleicht“, sagt er schließlich und schiebt ein „höchstens“ nach.
Tourismuschef Schäfer war keiner dieser Kunden, denn er ist im zurzeit Homeoffice – ein paar Kilometer weg von Putbus, das mit seinen weiß gestrichenen klassizistischen Häusern an diesem sonnigen Tag abweisend wirkt wie nie. „Es ist nicht schön, wenn wir unsere lieben und geliebten Touristen von der Insel verweisen und fernhalten, die seit Jahrzehnten unsere Insel besuchen und als zweite Heimat akzeptiert haben“, sagt Schäfer und fügt hinzu, das mit der zweiten Heimat sei ihm ganz wichtig. „Aber die medizinische Infrastruktur auf Rügen ist in einem Pandemiefall wie diesem eben nur für die Inselbevölkerung ausgelegt“, sagt er. „Die Quarantäne, in die sich Rügen begeben sollte, ist daher notwendig, um unsere Insulaner zu schützen.“
Da ist es gefallen, das böse Q-Wort, um das gerade heftigst gestritten wird in Deutschlands Nordosten. Denn die vorpommerschen Ostseeinseln – Rügen, Hiddensee, Poel, Usedom und die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst – wollen eine Einreisesperre, eine Abriegelung ihrer Territorien von der Welt da draußen. Niemand außer den Inselbewohnern und den von auswärts stammenden Arbeitskräften soll mehr übers Wasser zu ihnen kommen dürfen, auch nicht die Landsleute vom mecklenburg-vorpommerschen Festland. Das fordern viele – aber längst nicht alle! – Kommunalpolitiker und werden dabei von den meisten Insulanern unterstützt. Denn Tagesausflüge sind bislang noch erlaubt, weil die von der Regierung in Schwerin beschlossene Einschränkung der Reisefreiheit nicht für die Bewohner des eigenen Bundeslandes gilt. Mit der Folge, dass am vergangenen sonnigen Wochenende angeblich Tausende Tagestouristen aus MV an die Strände von Usedom und Rügen kamen, um dort spazieren zu gehen. Die Landesregierung will das auch zukünftig nicht unterbinden – solange die Menschen die vorgeschriebenen Abstandsregeln und Kontaktverbote einhalten, werde man Inselausflüge nicht verhindern, stellte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig klar.
Insellagen erfordern Insellösungen
In Usedom, Rügen und Hiddensee will man das nicht hinnehmen. Heringsdorfs resolute Bürgermeisterin Laura Isabelle Marisken forderte in der Ostseezeitung letzte Woche, Innenminister Lorenz Caffier müsse „cojones“ – das spanische Wort für Eier und Hoden – haben und die Inseln abschotten. Unterstützung erhält sie dabei vom Inhaber des Zinnowitzer Vineta-Hotels, Krister Hennige, der gleichzeitig Regionalverbandschef von Ostvorpommern des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) ist. Hennige will eine staatlich angeordnete Betriebsunterbrechung für ganz Usedom, die auch die Reha-Kliniken auf der Insel einschließt, weil deren Patienten schließlich aus dem gesamten Bundesgebiet anreisen.
Auf Rügen und Hiddensee klingt es ähnlich. Vor zehn Tagen forderte die Putbuser Bürgermeisterin Beatrix Wilke in einem Schreiben den Landrat von Vorpommern/Rügen, Stefan Kerth (SPD), auf, die beiden Inseln komplett abzuriegeln und den Tagestourismus konsequent zu verbieten. „Es rollt eine Lawine auf uns zu, die unser sicher geglaubtes Leben umkrempelt“, heißt es in dem Brief, der von zehn weiteren Bürgermeistern unterzeichnet wurde. „Insellagen erfordern Insellösungen, und jetzt ist es an der Zeit, diese auch zu schaffen.“

Genauso sieht es Knut Schäfer, der Rügener Tourismuschef. „Insellagen haben Inselprobleme und brauchen Insellösungen“, mit diesem Slogan werbe schließlich auch Landrat Kerth für seine Politik im Landkreis. „Deshalb ist es nur legitim, ihn an seine eigenen Worte zu erinnern.“ Und dann verweist Schäfer auf Schleswig-Holstein und Niedersachsen, wo die Landesregierungen den Zugang zu ihren Nordseeinseln auch für einheimische Festlandbewohner untersagt haben. „Es ist nicht zu verstehen, dass gut 150 Kilometer Luftlinie weiter westlich anders entschieden wird als in Schwerin.“
Wolfgang Kannengießer fürchtet, dass durch die Besucher Menschen auf der Insel infiziert werden. Er ist Inhaber einer Pension in Sellin und auch Chef des Rügener Hotel- und Gaststättenverbands. „Für den Tourismus wäre das eine Katastrophe, denn wenn jetzt weitere Fälle dazukommen, dann wird es immer schwerer, die Einrichtungen bald wieder zu öffnen. Ostern als Saisonauftakt ist bereits erledigt, und wenn wir jetzt schon sehen, dass die Monate Mai und Juni, die gut gebucht waren, eventuell auch nicht zur Verfügung stehen“, sagt Kannengießer. Man dürfe nicht vergessen: 80 Prozent der 64 000 Einwohner Rügens leben vom Tourismus. Daher sei jedes Mittel recht, um zu verhindern, dass die Zahl der Corona-Kranken weiter steigt. „In letzter Konsequenz eben auch die Abriegelung der Inseln.“
Das Gesicht des Rügener Widerstandes
Nun wäre es an der Zeit, einmal den Standpunkt von Landrat Kerth zu erfahren. Aber der Sozialdemokrat ist an diesen Tagen schwer zu erreichen, und so übernimmt sein Sprecher Olaf Manzke. „Der Landrat wird die Insel nicht abriegeln, das hat er überhaupt nicht vor“, stellt Manzke gleich zu Beginn des Gesprächs klar. Es gebe eindeutige Regeln von Land und Bund über Reisebeschränkungen und den Aufenthalt im Freien, was Abstand halten und die Begleitung bei Spaziergängen betreffe. „Außerdem muss man auch mal fragen: Warum sollen die Menschen nach Hiddensee oder ans Kap Arkona fahren, wenn es da nicht einmal mehr eine Bockwurst oder ein Fischbrötchen gibt? Du kannst da zwar noch an den Strand gehen, bist dort aber ziemlich allein – wen willst du da noch anstecken, wenn jeder die Abstandsregeln einhält?“
Manzke verweist auf die Rechtslage: Man könne die Insulaner rechtlich nicht anders behandeln als die Festlandbewohner. „Wir greifen hier in die Grund- und Persönlichkeitsrechte der Menschen ein – das muss so was von gut begründet sein“, sagt er. Was bei diesen Zahlen schwierig sei: „Wir haben bis jetzt, Stand Freitagmorgen, im gesamten Landkreis Vorpommern-Rügen 33 Erkrankte, die in häuslicher Quarantäne sind. Auf Rügen sind es neun. Niemand von ihnen liegt im Krankenhaus“, sagt Manzke. „In ganz Mecklenburg-Vorpommern haben wir 261 Infizierte, nur Bremen hat in ganz Norddeutschland weniger. Das ist die Lage bei uns.“
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Für Thomas Gens, den Bürgermeister von Hiddensee, sind das keine überzeugenden Argumente. „Wir wollen eine Lösung analog der für die Nordseeinseln“, sagt er. „Und mit wir meine ich die Gemeindevertretung und 95 Prozent der Hiddenseer.“ Vor einer Woche hatte er deshalb verfügt, dass in den Häfen der westlich von Rügen gelegenen Insel nur noch Leute anlanden dürfen, die dort Erstwohnsitz haben, auf Hiddensee arbeiten oder zur Pflege verpflichtet sind. „Wir wollten Fakten schaffen, aber da hat der Landrat gesagt, nee, das liegt nicht in eurer Kompetenz, das wollen wir nicht, und erklärte zwei Tage später unsere Verfügung für nichtig. Wir prüfen jetzt, auf juristischem Weg unsere Vorstellungen durchzusetzen. Wir haben keine Zeit, über Zuständigkeiten zu diskutieren, hier muss der Bevölkerungsschutz im Vordergrund stehen.“ Deshalb hat er als Erstes den Fährverkehr zur Insel radikal eingeschränkt – nur noch viermal am Tag verkehrt derzeit eine Fähre für maximal 400 Passagiere zwischen Schaprode auf Rügen und Hiddensee.
Gens, 50 Jahre alt, ist seit Oktober 2010 Bürgermeister der selbst ernannten „Wohlfühl- und Kulturinsel“ Hiddensee mit ihren knapp 1000 Einwohnern. Und er ist so etwas wie das Gesicht des Rügener Widerstandes. Zumindest ist er derjenige, der den Landrat am meisten nervt mit seinen Blockadeplänen. Und so ätzen sie im Amt über den aufmüpfigen „Inselhauptmann“: Habe die Gemeinde Hiddensee nicht in den letzten Jahren für viel Geld Grundstücke als Zweitwohnsitze auf der Insel an Leute verkauft, die man nun nicht mehr dahaben will? Und sei es nicht Populismus pur, wenn der Bürgermeister jetzt als Reaktion auf die Corona-Krise den Hiddenseern für ein paar Wochen Gewerbesteuer, Strandgebühr und Fremdenverkehrsabgabe erlassen will?
Vorteil einer Insellage
Gens fechten solche Ätzereien nicht an, im Gegenteil. Der jungenhafte Mann mit dem wirren, schon etwas schütteren Blondschopf pflegt das Image des Rebellen. Vor zehn Jahren hatte er noch als CDU-Mitglied den Posten des Bürgermeisters geholt, war aber bald darauf aus der Partei geschmissen worden, weil er nach der Jahrtausendwende kurzzeitig der rechtsextremen DVU angehört hatte. Auch Berichte über angebliche Stasi-Kontakte als Schüler und Wehrpflichtiger konnten ihm nichts anhaben. Mittlerweile sind alle, die ihm einst eine nur kurze Amtszeit auf Hiddensee prophezeiten, längst verstummt. Dafür feuern ihn seine in die Hunderte gehenden Facebook-Follower an im Kampf mit dem Landrat, und auch mit seinem jüngsten hashtag „#bleibtzuhausehelftHiddensee“ fährt er viel Zustimmung ein.
„Wir haben 1,6 Millionen Einwohner in unserem Bundesland, die können sich frei bewegen und theoretisch alle nach Hiddensee kommen“, sagt Gens. „Was aber, wenn dadurch eine Corona-Welle auf die Insel schwappt? Wir haben einen Altersdurchschnitt von 50plus auf der Insel, also die Risikogruppen sind stark vertreten.“ Gens sagt, er wolle einfach nur den Präventionsvorteil einer von Wasser umgebenen Insel nutzen, um Corona so gut es geht von Hiddensee fernzuhalten. „Was soll daran falsch sein?“