Baerbocks bürgernahe Sicherheitsstrategie: Sinnvolle Außenpolitik oder PR-Show?
Der Ukraine-Krieg besorgt die Bürger. Die Außenministerin treibt ein neues Sicherheitskonzept voran. Dafür fährt sie eine Woche mit dem Bus durch Deutschland.

Europas Sicherheit ist bedroht. Nur zehn Autostunden von der Berliner Stadtgrenze entfernt wütet der größte europäische Landkrieg seit 1945. Sicherheit steht in Deutschland spätestens seit dem 24. Februar 2022 wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Doch der Begriff ist dehnbar.
Bei vielen Themen geht es um Sicherheit: bei der Klima- und Energiepolitik, in der Gesundheitspolitik, bei Waffen- und Gaslieferungen. Außenministerin Annalena Baerbock ist angetreten, um all diese Begriffe in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ unter einen Hut zu bringen. Dazu wollte sie sich auch Hilfe von Otto Normalbürgern holen. Eine einwöchige Reise durch Deutschland sollte ihr deren Verständnis von und Ansprüche an Sicherheit näherbringen. Ein ambitioniertes Unterfangen.
Für die Reise zur neuen Sicherheitsstrategie war ein speziell lackierter hellblauer, einstöckiger Reisebus auf Deutschlands Autobahnen und Landstraßen unterwegs. Auf den ersten Blick hätte der Bus auch ein Tourbus aus dem Wahlkampf sein können. Ein großer Bundesadler und das Logo des Auswärtigen Amtes zierten das Transportmittel, außerdem der Schriftzug: #Sicherheitsstrategie.
Gleich geht es los. Mir Außenministerin @ABaerbock auf Sommerreise -- dieses Mal in Deutschland, nicht im Ausland. Fakten, Informationen und Eindrücke sammeln für die Nationale Sicherheitsstrategie, die erstmals aufgelegt wird. Antworten in einer Welt voller neuer Gefahren pic.twitter.com/LwYgNs5ZpH
— Holger Möhle (@HolgerMoehle) July 21, 2022
Bei den Bürgergesprächen sollte es ums Zuhören gehen, das sagte Baerbock während der Tour immer wieder. Aber warum ist die Außenministerin, die qua Amt doch für Außen- und nicht für Innenpolitik zuständig ist, überhaupt auf ausgedehnten Reisen durchs Land? Müsste sie Deutschlands Interessen nicht in Kasachstan, Brasilien oder der Türkei vertreten, statt in Bremen, Hannover oder Karlsruhe?
Die Idee eines weit umfassenden Sicherheitskonzeptes ist jedenfalls nicht neu, es gab sie schon vor dem Krieg in der Ukraine. Im Koalitionsvertrag vom 7. Dezember 2021 kündigten SPD, Grüne und FDP erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie an. So etwas gab es nicht einmal zu Regierungszeiten von Helmut Schmidt oder Helmut Kohl.
Bürgerdialoge als Fundament von Sicherheit?
Die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik sollte wieder näher am Menschen sein, versprach die Ampelregierung. „Wir suchen aktiv den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern über die Herausforderungen der internationalen Politik“, heißt es im Koalitionsvertrag. Man wolle dafür mit unterschiedlichen Bürgern ins Gespräch kommen. Vom Meereswissenschaftler bis zum Soldaten, vom Dschihadismus-Aussteiger bis zum Mediziner und vom Schlosser bis zum Bäcker. Aber lässt sich ein Sicherheitskonzept eines EU-, Nato- und G7-Staates mit Laien entwickeln?
Heute in Strausberg beim ABC-Abwehrkommando der Bundeswehr mit @ABaerbock. Thema bei heutigen 39 Grad: Nationale #Sicherheitsstrategie Deutschlands pic.twitter.com/HXtYLGIirX
— Nicolas Butylin (@Nico_Butylin) July 20, 2022
Das Fundament des neuen Konzeptes sind Bürgerdialoge, sogenannte Townhall-Gespräche, erklärt die Außenministerin. „Die Bundesregierung sucht vor allem auch den Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern“, schreibt das Auswärtige Amt auf der Website. Mithilfe eines nicht näher genannten Dienstleisters wird ein „möglichst repräsentatives, kleines Abbild der gesamten Bevölkerung der jeweiligen Region“ zu den Dialogen eingeladen, ist aus dem Auswärtigen Amt zu hören. Die Ergebnisse der Gespräche sollen im Nachgang in die Ausfertigung der Nationalen Sicherheitsstrategie einfließen. Wie konkret sie jedoch erfasst und in welcher Form sie in das Konzept eingegliedert werden, bleibt unklar.
Der Außenministerin geht es angeblich nicht nur um den Austausch innerhalb der „Berliner Politikblase“, zwischen Ministerien und in Expertenkreisen, sondern „um die Freiheit jedes einzelnen Menschen – bei uns und weltweit“, so Baerbock auf der Auftaktveranstaltung zur Sicherheitsstrategie im März 2022. Doch wie soll Deutschland für die Sicherheit der Menschen weltweit sorgen? Auf diese Frage der Berliner Zeitung ging der Sprecher des Außenministeriums nicht ein.
Sicherheitskonzepte von Washington bis Warschau
Nach Aussagen von Baerbock ist das Auswärtige Amt bei der Entwicklung der Strategie „federführend“. Wie eine Vielzahl von internationalen Partnern solle auch Deutschland ein umfassendes Konzept für seine Sicherheit entwickeln. Die USA besitzen mit ihrer National Security Strategy (NSS) seit über 40 Jahren ein Konzept der ganzheitlichen Sicherheit. Es wird kontinuierlich angepasst und bildet unterschiedliche Sicherheitsanforderungen der Vereinigten Staaten ab. Eine ähnliche Strategie fährt auch das Vereinigte Königreich. In der Europäischen Union haben zum Beispiel unsere Nachbarn Frankreich und Polen nationale sicherheitspolitische Leitlinien.
In Paris wurde im vergangenen Jahr das sogenannte Nationale Strategiedokument aktualisiert – mit pessimistischen Vorhersagen hinsichtlich des geopolitischen Umfelds in der anstehenden Dekade. Besonders die Corona-Pandemie verstehen die Franzosen als Brandbeschleuniger von Krisen und Konflikten. Im polnischen Sicherheitskonzept ist Russland der dominierende Faktor. Schon 2020 hieß es in dem Papier der Warschauer Regierung: „Die ernsthafteste Bedrohung ist die neoimperiale Politik der Russischen Föderation, die auch mit militärischer Gewalt verwirklicht wird.“
Jedoch spielen weder in den USA noch in Frankreich Durchschnittsbürger eine derart wichtige Rolle beim Erarbeiten eines Sicherheitskonzeptes. Die Veröffentlichung der Nationalen Sicherheitsstrategie wird schlussendlich zeigen, welche Rolle die Bürgerdialoge wirklich spielten. Die Ampelkoalition kündigte sie bis spätestens 7. Dezember an.