Solidarität, Krieg und die Ordnung von gestern: Warum die Ukraine Frieden braucht
Unser Autor ist Pole. Er findet, dass Waffenlieferungen an die Ukraine hinterfragt gehören. Was er will, ist eine Debatte über den Sinn von Grenzen und Staaten.

Die Regierung von Bundeskanzler Scholz gibt keine Panzer her und verweigert so die Rettung von Menschenleben – eine solch harsche Kritik an der deutschen Ukraine-Politik hat in Polen längst den Mainstream erreicht. Als ich Ende Juni nach Warschau kam, wurde ich damit auf Schritt und Tritt konfrontiert. Unabhängig von den politischen Sympathien von ganz links bis rechts herrschte ein erstaunlicher Konsens: Deutschland schadet mit seinem Zögern der ukrainischen Sache und negiert einen gerechten Verteidigungskrieg.
Aber ist das wirklich der Fall? Meine Gesprächspartner verweisen immer wieder auf wirtschaftliche Interessen, die Deutschland mit Russland verbinden. Oder auch auf eine vermeintlich traditionelle Skepsis des sogenannten Westens gegenüber den Ängsten der Mitteleuropäer vor Russland.
Ich glaube nicht, dass das so simpel ist. Als gebürtiger Warschauer, der über den Nahen Osten schreibt und mehrere Jahre abwechselnd in Beirut und Köln gelebt hat, sehe ich die Zurückhaltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine im Lichte einiger frappierender Analogien.
Für die Glückseligkeit der Bürgerinnen und Bürger
Schon bei Aristoteles heißt es, der Staat solle seinen Bürger:innen ein gutes und gerechtes Leben ermöglichen. Wenn der Staat das aber nicht schafft, sollen dann seine Bürger:innen ihr Leben lassen, um ihn zu verteidigen?
Niemand bestreitet, dass die russische Aggression gegen die Ukraine eine Verletzung der Normen des Völkerrechts darstellt. Doch wie auch Antje Vollmer in ihrem Beitrag „Wo sind die Realos?“ eindringlich schildert, lässt die plötzliche Auferstehung der Daseinsberechtigung der Nato Böses erahnen: Die Welt scheint hier gerade von allen Seiten mit dem Schwert der Ideologie und der Kriegsgewalt neu geordnet zu werden.
Wenn das Wohlergehen menschlicher Individuen und die Solidarität mit den vom Krieg Betroffenen die Grundlage politischen Handelns sein sollen, dann sind jedem Verteidigungskrieg Grenzen gesetzt. Vielmehr ginge es darum, menschliches Leid und die Zerstörung der Umwelt zu verhindern, die in einem Konfliktgebiet die Lebensgrundlage der Bewohner darstellt. Ab einer bestimmten Schadenshöhe würde die Verteidigung das ethisch Hinnehmbare überschreiten.

Den Krieg muss man aus der Perspektive der Opfer betrachten
Das heißt, den Krieg nicht aus der Perspektive der Regierungen oder geopolitischen Strategen, sondern der direkten Opfer zu betrachten. Das sind Menschen, die in den von den Kämpfen betroffenen Gebieten leben, die von Tod, lebenslangen Verletzungen oder Vertreibung bedroht sind. Sie sind es, die die Solidarität der internationalen Gemeinschaft verdienen, um deren Wohlergehen es geht.
Welche Berechtigung hat eine politische Macht, Menschen dazu zu zwingen, ein solches Schicksal zu ertragen? Hat eine solche Macht nicht ausgedient? Wenn sie ihren Bürger:innen nichts außer Tod und Elend zu bieten hat, ist sie einer Unterstützung nicht wert. Die Bürger:innen sind nicht dafür da, eine politische Macht um jeden Preis zu schützen. Vielmehr braucht es dringend eine Macht, die in der Lage ist, ihren Bürger:nnen ein gutes und gerechtes Leben zu ermöglichen.
Wie gerecht sind unsere Grenzen?
Aus dieser Perspektive wäre der Erhalt der gegenwärtigen politischen Strukturen, einschließlich der Staaten mit ihren derzeitigen Grenzen und Regierungen, zweitrangig gegenüber dem Recht der Menschen auf ein Leben in Frieden und mit einer realistischen Aussicht auf die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse.
Gleichzeitig würden wir (endlich!) die postromantische ethnozentrische Vorstellung von einem Territorium infrage stellen, das vermeintlich zu einer bestimmten Nation „gehört“ und innerhalb der bestehenden politischen Ordnung regiert wird. Diese Ordnung umfasst nicht nur die aktuellen Staatsgrenzen und politischen Systeme, sondern auch die entsprechende Rechtsordnung. Anstatt diese zu verabsolutieren, würde es sich lohnen, sie alle als eine Übergangsform zu betrachten und mutig nach einer Welt zu suchen, in der wir bessere Strukturen schaffen können.
Wie gerecht sind Grenzen?
Ein ausdrückliches Nein! zu Waffenlieferungen und der Aufruf zur sofortigen Aufnahme von Friedensverhandlungen kann somit als eine Stimme gegen eine Simplifizierung der Vorstellung von Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen gelesen werden. Ich habe meine Gesprächspartner in Polen gefragt, was ein gerechter Krieg, den Deutschland vermeintlich verhindert, eigentlich wäre? Das sei doch klar: Ein Land wird angegriffen, Teile seines Territoriums werden besetzt und das Land setzt sich zur Wehr. Die internationale Gemeinschaft hilft bei der Verteidigung. Die Gerechtigkeit wird mit der Rückeroberung des besetzten Territoriums wiederhergestellt.
Ich hakte nach. Ab wann zählt denn die Gerechtigkeit: Seit dem Ausbruch des Krieges oder seit der Grenzziehung? Wie gerecht sind denn überhaupt unsere Grenzen? Und tun sie in ihrer aktuellen Form den Bürger:nnen wirklich gut?
Staaten funktionieren nicht mehr
Vieles deutet für mich darauf hin, dass die Staaten, in denen wir heute leben, ihre grundlegenden Funktionen nicht mehr erfüllen. Im Zeitalter der Globalisierung und des Klimawandels sind sie kein wirksames Instrument zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bürger:nnen. Mit ihren aktuellen Grenzen behindern sie offenkundig auch das friedliche Zusammenleben. Auch im wirtschaftlichen Bereich, mit den unzähligen Querverbindungen durch die ganze Welt hindurch, sind diese Staaten oft weder mächtig genug, um im Sinne der Verbraucher regulierend einzugreifen, noch können sie die Verbindungen schnell regional ersetzen, wenn es zu einer Krise kommt.
Und das dürfte auch niemanden wundern. Wurden die Grenzen in Europa, aber auch an vielen anderen Orten in der Welt, nicht in der erklärten Absicht geschaffen, Konflikte zu schüren? Die Staaten, in denen wir heute leben, beruhen auf einer maroden politischen Ordnung, die über die Köpfe ihrer Bewohner hinweg geschaffen wurde, oft um die Menschen zu bestrafen, gegen ihren Willen zu beherrschen und sie gegebenenfalls gegeneinander aufhetzen zu können. Das alles geschah in einer völlig anderen Zeit – nämlich Mitte des letzten Jahrhunderts.
Ich glaube nicht daran, dass Konflikte wie der Krieg in der Ukraine nachhaltig gelöst werden können, ohne sich der Lage in dieser Dimension zu stellen. Zudem spüre ich eine akute Angst, dass wir nach Afghanistan, Irak, Syrien, Georgien und der Ukraine solche Konflikte auch bald mitten unter uns erleben werden.
Ein Beispiel aus der Geschichte: Warschau
Die Frage nach den Waffenlieferungen in die Ukraine erinnert mich an die Geschichte des Warschauer Aufstands von 1944. Bekanntlich verwandelten die Besetzung durch die Nazis und die insgesamt zwei Aufstände Warschau in eine fast völlig zerstörte und entvölkerte Stadt. Es besteht kein Zweifel, auf wessen Seite die Gerechtigkeit damals stand. Aber es lohnt sich, an den internationalen Kontext zu erinnern.
Die westlichen Alliierten versorgten die Aufständischen von 1944 mit Waffen, die aus Flugzeugen abgeworfen wurden. Doch Stalin verbot damals den Piloten, die zumeist aus Italien flogen, Flugplätze in dem von der Sowjetarmee kontrollierten Gebiet zu benutzen. Aufgrund der begrenzten Reichweite der damaligen Flugzeuge machte er es somit unmöglich, die Kämpfenden effektiv zu versorgen. Die westlichen Alliierten nahmen das so hin.
Mehr noch: Auf der Konferenz von Teheran 1943 wurde vereinbart, dass Polen in den Einflussbereich der UdSSR fallen würde. Nicht die polnische Exilregierung in London und ihre kämpfende Untergrundarmee sollten die Geschicke des befreiten Landes bestimmen, sondern die von Moskau abgesegneten Kommunisten. Die Entscheidungen wurden geheim gehalten und die Aufständischen somit systematisch belogen. Die Alliierten lieferten den Kämpfenden Waffen, obwohl ihre politische Niederlage von vornherein in der Nachkriegsordnung Europas festgeschrieben war. Den Preis dafür zahlten die Einwohner:innen der Stadt, in der die Kämpfe stattfanden. Etwa 200.000 Menschen ließen ihr Leben, ganze Stadtteile wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Eine Lektion aus Beirut
Blicken wir noch weiter nach Osten: auf den Libanon und seine Verteidigungsdoktrin. Bereits in den späten 1960er-Jahren bemühte sich die libanesische Regierung und damit auch die libanesische Armee vergeblich, genügend Waffen zu beschaffen, um den an der Südgrenze des Landes operierenden Milizen entgegentreten zu können.
Entsprechend dem heute noch geltenden internationalen Konsens kann der Libanon, der an Israel und Syrien grenzt, seine Armee nicht so ausrüsten, dass sie ein Gegengewicht zu einem der beiden mächtigen Nachbarn bilden könnte. Das bedeutet, dass niemand dem Libanon moderne Panzer oder sogar wirksame Luftabwehrsysteme verkaufen will, ganz zu schweigen von Kampfflugzeugen oder Schiffen.
Die libanesische Verteidigungsdoktrin besagt, dass sich die Armee nicht auf einen Konflikt mit einem unverhältnismäßig starken Gegner einlässt. Anstatt also in den Krieg zu ziehen, bleiben die Soldaten einfach in den Kasernen. Sie kämpfen und sterben nicht. Das Land bleibt von Zerstörungen weitgehend verschont.
Das ist mitunter der Grund, warum die Menschen im Libanon trotz aufeinanderfolgender Kriege, Krisen und manchmal sogar teilweiser Besetzung des Landes in relativem Wohlstand leben. Sie können ihre Kinder in die Schulen schicken, ihren Geschäften nachgehen und ihren Lebensunterhalt sichern. Wenn sie auswandern, handelt es sich meist nicht um sogenannte billige Arbeitskräfte, sondern um begehrte qualifizierte Zuwanderer, die oft über ein beträchtliches Startkapital verfügen.
Politik anders denken
Ist eine politische Macht, die de facto auf den Anspruch auf ihr Territorium angesichts eines überwältigenden Angriffs verzichtet, nicht näher am Wohlergehen der Bürger:innen als eine, die um jeden Preis kämpfen will? Zumal sich die Frage stellt: Was macht uns so sicher, dass die ukrainischen Karten auf dem Tisch liegen und dass ein derartiger internationaler Konsens, wie man ihn nicht nur vom Warschauer Aufstand oder aus dem Libanon kennt, auch im Falle der Ukraine vorliegt?
Möglicherweise vollziehen wir vielmehr eine symbolische Geste, indem wir den kriegerischen Kampf unterstützen, anstatt uns mit aller Kraft für den Frieden einzusetzen. Diese Geste ist Ausdruck einer bestimmten Ideologie, eines maroden Staatsdenkens, verwurzelt zwischen der europäischen Romantik und der Heiligen Allianz.
Und wenn schon jemand gerne mit Waffen hantiert: In Anbetracht der Einwohnerzahl und der im Vergleich zu Moskaus Arsenal eher begrenzten Mengen an oft veralteten Waffen, die wir an die Ukraine liefern, geben wir der Ukraine wirklich eine echte Chance auf einen Sieg? Ist es nicht eher das Gegenteil: Indem wir diesen Krieg zum Kampf zwischen Gut und Böse stilisieren – verlängern wir ihn da nicht ohne Aussicht auf Erfolg, lassen Leid, Frust und Wut eskalieren und vermehren die Opfer?
Die EUtopie
Einige Jahre lang arbeitete ich freiberuflich mit dem NS-Dokumentationszentrum in Köln zusammen. Die von der Stadt betriebene Einrichtung befindet sich in der ehemaligen Gestapo-Stelle und widmet sich der Dokumentation von NS-Verbrechen und der historischen Bildung. Ähnliche Einrichtungen sind bekanntlich über das ganze Land verstreut. Sie erfüllen nicht nur eine zentrale Bildungsaufgabe, sondern stehen gleichsam für das Fundament der Geschichtspolitik der Bundesrepublik: Nie wieder!
Als zugewanderter Kölner habe ich es als eine Art unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag erlebt, dafür Sorge zu tragen, dass sich der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg oder ein Krieg in Europa im Allgemeinen nicht wiederholen. Als dann kürzlich der Bundestag den Export schwerer Waffen in die Ukraine genehmigte und den Militärhaushalt um eine unvorstellbare Summe erhöhte, die ein Drittel des jährlichen Staatshaushalts 2019 ausmacht, habe ich das als Bruch dieses Vertrages gesehen.
Wo bleibt die Debatte, die diesem gravierenden Umbruch gerecht wird? Nach zwei Jahren Covid und mitten in einer aktuellen wirtschaftlichen Krise: Brauchen die Bürger:innen das Geld nicht dringend für etwas anderes als für Waffen?
Sowohl in Deutschland wie in Polen habe ich mehrmals über EUtopie (eutopia, aus dem Griechischen, der gute Ort) als ein Projekt für ein neues Europa geschrieben. Dabei habe ich dazu angeregt, über die Ineffizienz der Staaten, in denen wir auf unserem Kontinent leben, nachzudenken.
EUtopie beginnt damit, unbequeme Fragen zu stellen. Zum Beispiel über die europäischen Grenzen, die von der Willkür der Mächte des Kalten Krieges geprägt sind. Oder über die Berechtigung der Staatsmänner und -Frauen, von ihren BürgerInnen zu verlangen, ihr Leben für den Erhalt des Staates zu opfern. EUtopie bedeutet aber auch, konsequent anzuerkennen, dass das menschliche Leben einen nicht verhandelbaren Wert darstellt, wogegen politische Ordnung immer Gegenstand eines Konsenses ist und veränderbar bleibt. Auch wenn das so manchen PolitikerInnen oder DiplomatInnen nicht besonders gefallen mag.
Nach den besorgniserregenden Schwierigkeiten Europas während der COVID-Krise ist für mich der Krieg in der Ukraine ein weiterer Weckruf. Die Nachkriegsordnung unseres Kontinents erschöpft sich vor unseren Augen. Statt dem Wohlergehen der BürgerInnen zu dienen, scheint sie mehr und mehr Leid und Enttäuschung zu bewirken.
Wenn wir uns weiterhin weigern, diese Ordnung neu zu verhandeln, verdammen wir uns selbst dazu, Brände im Nachhinein zu löschen, anstatt sie zu verhindern. Im Geiste der Unterzeichner der deutschen Anti-Kriegs-Appelle ermutige ich zur EUtopie, anstatt denjenigen Politikern zu applaudieren, die aufrüsten wollen und weitere Konflikte heraufbeschwören.
Eine frühere polnische Fassung des Textes wurde in der Tageszeitung Rzeczpospolita am 5. Juli 2022 veröffentlicht.