SPD-Parteitag in Wiesbaden:

Berlin - Das tut weh. Andrea Nahles trägt ernste Gesichtszüge. Es dauert einen Moment, bis sie sich auf dem Podium kurz zu ihrem Nebenmann Ralf Stegner dreht und dann doch noch zu einem flüchtigen Lächeln durchringt. Wenige Sekunden nur. Dann sieht ihr Gesicht wieder wie versteinert aus.

66 Prozent. Ein besseres Wahlergebnis haben die Delegierten des SPD-Parteitags in Wiesbaden Andrea Nahles bei der Wahl zur Parteivorsitzenden nicht gegeben. Nur 66 Prozent für die Frau, die künftig als Fraktions- und Parteichefin das Kraftzentrum der SPD bilden soll. Die dafür sorgen soll, dass die SPD in Zeiten der großen Koalition mit einem eigenständigen Profil erkennbar bleibt.

Nahles präsentiert sich offen, werbend und kämpferisch

Dabei hat Andrea Nahles an diesem Tag in Wiesbaden eigentlich sehr viel richtig gemacht. Sie ist offen, werbend, aber auch kämpferisch aufgetreten. Sie hat der Partei versprochen, sich gemeinsam mit ihr auf den Weg zu machen, nach dem sozialdemokratischen Programm für die großen Zukunftsfragen zu suchen. „Ganz ehrlich, die Regeln, die diese Form von digitalem Kapitalismus zu einer sozialen Marktwirtschaft machen, müssen erst noch erfunden werden“, hat sie den Delegierten zugerufen. Die linke Faust war dabei nach oben gerecht. Nahles hat auf diesem Parteitag klar gemacht, dass sie die SPD klar auf Seiten der Arbeitnehmer positionieren will.

Erzählen wir die Geschichte von vorn: Von Anfang an ist klar, dass es ein besonderer Tag für die SPD sein wird. Erstens, weil die Partei zum ersten Mal in ihrer 155-Jährigen Geschichte eine Frau in den Parteivorsitz wählt – ein historischer Schritt, auch wenn er reichlich spät kommt. Zweitens, weil die Delegierten bei der Wahl zur Vorsitzenden eine Auswahl haben. Das klingt eigentlich ganz normal, ist es aber nicht. Genau genommen war es das letzte Mal im Jahr 1995 der Fall, als Oskar Lafontaine plötzlich gegen den die Partei lähmenden Rudolf Scharping antrat. Und ihn erfolgreich stürzte. Eine Sensation.

Vorbehalte in allen Lagern

Diesmal galt vorher als ausgemacht, dass es zumindest keine riesengroße Sensation geben würde. Der Parteivorstand hat dem Parteitag einstimmig die Wahl von Nahles empfohlen. Ihre Gegenkandidatin Simone Lange ist zwar Oberbürgermeisterin von Flensburg, hat aber keine bundespolitische Erfahrung. Eine klare Sache, eigentlich.

Andrea Nahles weiß, dass es in der Partei Vorbehalte gegen sie gibt. Von Linken, die finden, dass die einstige Juso-Chefin und Parteilinke heute zu sehr auf Regierungskurs setzt. Von Parteirechten, die Nahles eben deshalb nicht vertrauen, weil sie eigentlich von der Linken kommt. Und vielleicht auch vom einen oder anderen Mann, der doch keine Frau als Vorsitzende haben wollen. Entsprechend gut hat sie sich vorbereitet.

Es gibt also – ungewöhnlich genug – zwei Kandidatinnen, die sich den Delegierten vorstellen. Die nacheinander auftreten und auch Fragen beantworten. Schön dem Alphabet nach: erst L wie Lange, dann N wie Nahles.

Kühnert von Langes Kampagne nicht überzeugt

Simone Lange ist in den vergangenen Wochen durch die Ortsvereine getourt – mit einem Kleinbus und einem kleinen Team von Freiwilligen: einer Frisörin, die alle ihre Termine koordinierte und einem Postboten, der als ihr Pressesprecher arbeitete. Ihre unterschwellige, aber stets präsente Botschaft war: Die Basis sind wir. Wählt mich, Simone Lange, als Kandidatin gegen die da oben! Das allein fand auch Juso-Chef Kevin Kühnert zu dünn, um sie zu unterstützen. Er empfahl die Wahl von Nahles.

Bei ihren Auftritten erzählte Lange stets, wie entsetzt sie gewesen sei, dass mal wieder alles von vorneherein feststehen sollte. Wie sie erst nicht glauben wollte, dass der Vorstand nicht nur Andrea Nahles als Kandidatin nominiert hatte – sondern dass es zwischenzeitlich auch den Plan gab, der Fraktionschefin nach dem Rücktritt von Martin Schulz sogleich kommissarisch den Parteivorsitz zu überlassen. Da, so sagte Lange bei ihren Auftritten vor der Basis stets, habe sie entschieden, für den Vorsitz ins Rennen zu gehen.

Langes Auftreten erinnert ein bisschen an Martin Schulz

Die 41-Jährige, geboren und aufgewachsen in Rudolstadt in Thüringen, hat dann stets viel über ihr Leben gesprochen. Darüber, dass es immer noch nicht genug Verständnis für unterschiedliche Biografien in Ost- und Westdeutschland gebe. Und darüber, wie sie 14 Jahre lang in Schleswig-Holstein habe sie als Kripobeamtin gearbeitet und dabei viele Schattenseiten des Lebens kennengelernt habe. Es klang stets ein bisschen wie bei Martin Schulz, der auch immer betont hat, er wisse, wie es den normalen Bürgern geht.

All das sagt Simone Lange an diesem Sonntag nicht. Stattdessen hält sie eine sehr allgemeine Rede. „Lasst uns, frei nach Willy Brandt, mehr Demokratie leben“, ruft sie den Delegierten zu. Sie philosophiert darüber, dass dessen Kniefall in Warschau eine wunderbare Geste der Demut gewesen sei. Willy Brandt, wie originell, raunt manch einer. Besonders neu klingt das tatsächlich nicht.

„Demokratie hat nichts mit Alternativlosigkeit zu tun“

„Ich kandidiere deshalb, weil Demokratie nichts, aber auch gar nichts mit Alternativlosigkeit zu tun hat“, ruft Simone Lange dem Publikum zu. Und: „Ich bin heute euer Alternative.“ Lange erhält dafür Applaus – aber er fällt doch eher vereinzelt und spärlich aus. Der inhaltliche Punkt, den sie setzt, ist, dass sie sich als SPD-Vorsitzende für Hartz IV entschuldigen und es rückabwickeln wolle.

Lange argumentiert, Nahles könne als Fraktionschefin nicht auch noch den Parteivorsitz übernehmen. Zweifel an ihrer eigenen Qualifikation will sie mit dem Satz zerstreuen: „Wer sagt, dass die neue SPD-Chefin die beste sein muss? Es muss die richtige sein.“ Sie stehe für die Trennung von Amt und Mandat – obwohl sie auch als Parteivorsitzende Oberbürgermeisterin bleiben will. Dann tritt Lange nach gut 16 Minuten Redezeit ab – was erstaunlich ist, weil sie es war, die im Vorfeld gefordert hatte, sie müsse mindestens eine halbe Stunde zur Vorstellung bekommen.

„Mein Name ist Andrea Nahles“

Und was macht Andrea Nahles, als sie ihre Bewerbungsrede beginnt? Sie – also die Frau, die hier wirklich jeder kennt – stellt sich der eigenen Partei erst einmal kurz vor. Höflich, umsichtig. „Mein Name ist Andrea Nahles“, sagt sie. „Ich bin 47 Jahre alt und lebe mit meiner Tochter Ella in der Eifel.“ Vor 30 Jahren sei sie in die SPD eingetreten, erzählt die SPD-Fraktionschefin im Bundestag, als erste in ihre Familie: ein katholisches Arbeiterkind aus der Vulkaneifel.

Dass sie es weit im Leben gebracht habe, dass sie an diesen Tag ganz oben auf der Bühne stehe, das verdanke sie ihren Eltern, sagt Nahles. „Hallo Mama“ ruft sie ihrer Mutter zu, die an diesem besonderen Tag für ihre Tochter nach Wiesbaden gekommen ist.

Sie verdanke es auch einem Bildungssystem, das mehr Chancengerechtigkeit geschaffen habe, fügt Nahles hinzu. Am Ende verdanke sie auch alles der SPD. „Auch du hast damals sicher nicht gedacht, dass ich heute hier stehen würde“, ruft die Politikerin ihrer Mutter zu.

Kämpferische Rede für ein starkes Europa

Nahles beschreibt, wie sie als junge Frau in ihrem Heimatort in der Vulkaneifel gemeinsam mit Freunden einen SPD-Ortsverein gegründet hat – nicht weil sie Karriere habe machen wollen, sondern weil sie etwas in der Demokratie bewegen wollte. „Der Antrieb, warum ich hier heute stehe, ist genau derselbe“, ruft sie mit geöffneten Armen aus: einer Mischung, aus einer Predigergeste und dem eher aggressiven Handkantenschlag der Politikerin. Nahles hält eine kämpferische Rede: gegen Rechtspopulismus, für einen starkes Europa und für einen handlungsfähigen Sozialstaat.

„Sie brauchen einen starken Arm in der Politik. Und wir sind dieser starke Arm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“, ruft Andrea Nahles. Sue reißt eben diesen Arm erneut hoch. als sie darüber spricht, dass immer weniger Menschen unter dem Schutz von Tarifverträgen arbeiteten. Nahles ist laut. Ihre Stimme scheppert, wenn sie ruft, ja ins Mikrofon brüllt. Das mag nicht jeder Wähler. Aber der Parteitag feiert sie.

Partei nach monatelangem Gezerre schwer gezeichnet

Dass sie dennoch ein so mäßiges Ergebnis erhält, lässt sich nur damit erklären, dass die Partei nach dem monatelangen Gezerre über die Regierungsbeteiligung immer noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Es gibt eine Vertrauenskrise in der Partei, das ist eindeutig. Manch ein Delegierter hat sich wohl gedacht: Zu einfach wollen wir es ihr auch nicht machen.

Die Stärke von Andrea Nahles ist, dass sie Niederlagen wegstecken kann. Sie wird am Montag sofort mit der Arbeit anfangen. Im Amt der Bundesarbeitsministerin erwies sie sich als durchsetzungsfähige Pragmatikerin, die dafür sorgte, dass der Mindestlohn Realität wurde. Sie, die einstige Juso-Chefin, ist angekommen in den Mühen der Ebene, wo Zentimeter für Zentimeter um die Umsetzung von politischen Inhalten gekämpft wird. Ein Spiel, das Nahles beherrscht.

Erneuerung „schaffe ich nicht allein“

Jetzt will sie zeigen, dass sie auch in dieser Situation die SPD als Partei profilieren kann – trotz großer Koalition. Sie gibt sich überzeugt, sie werde es damit leichter haben als Vorgänger: Sie sei zwar als Fraktionschefin an die Regierung gebunden. Doch ihre Vorgänger hätten stets am Kabinettstisch gesessen. Nahles gibt der Partei aber auch mit auf den Weg: Die Erneuerung der SPD, „das schaffe ich nicht allein“.

Nahles mag am Sonntag nach der Wahl nicht glücklich ausgesehen haben. Manch ein Parteifreund hat sie in der Vergangenheit schon als verletzend erlebt, wenn Dinge nicht so liefen, wie sie wollte. Ihre Stärke ist dennoch: Die Vulkaneifelerin ist eine lebenslustige, humorvolle Person, die im kleinen Kreis als sehr herzlich wahrgenommen wird. Ihre Fähigkeit zur guten Laune wird sie jetzt brauchen – auch, um die Partei damit anzustecken.

Schulz mahnende Worte kommen etwas spät

Ganz zum Schluss des Parteitags tritt Nahles auch schon wieder sehr gefasst auf. Sie dankt Martin Schulz für seine Dienste. Also dem Mann, der noch vor gut einem Jahr mit 100 Prozent zum Vorsitzenden gewählt wurde. Und der dann mit der SPD und als Person in den freien Fall gerät. „Wie es ist, diese Achterbahn zu durchleben, das können wir nur ahnen“, sagt sie. Sie gibt ihm zu guter Letzt noch mit auf den Weg, was auch sie selbst sich jetzt wohl wünscht: „Solidarität“.

Und Schulz? Er mahnt die Delegierten, Andrea Nahles müsse jetzt der Rücken freigehalten werden, um mit dem politischen Gegner zu ringen. Der Parteitag müsse sie stärken. Nur leider ist die Wahl zur Vorsitzenden da schon gelaufen.