Stalingrad-Veteran berichtet: „Wir waren jung, und wir wollten leben“

Karl-Hans Mayer sitzt auf seiner Couch, ein Fotoalbum auf dem Schoß. „Da sind wir in Aarhus, nach der Besetzung Dänemarks“, sagt er. Die Fotos zeigen einen jungen Mann auf einer Wiese, ein Mädchen liegt neben ihm, hat ihren Kopf auf seine Brust gebettet. „Und das hier“ – Mayer zeigt auf ein Foto von einem Bauernhaus – „war unsere Unterkunft in Südfrankreich. Wir waren zu viert bei einer französischen Familie untergebracht.“ Der alte Mann schmunzelt. „Wir haben uns gut verstanden. Als ich abkommandiert werden sollte zur Ostfront, hat mich der Mann beiseite genommen und gesagt, er könne mich über die Grenze zu den Basken bringen. Da finden mich die Deutschen nie.“ Mayer schweigt einen Moment. „Aber das konnte ich ja nicht machen“, sagt er schließlich. „Ich war ja Soldat.“

Karl-Hans Mayer, 1921 in Halle geboren, ist ein freundlicher alter Herr mit buschigen Augenbrauen. Sein linker Mundwinkel hängt ein wenig, Folge eines Schlaganfalls vor einigen Jahren. Es fällt ihm schwer, von der Couch aufzustehen. Zwei, drei Versuche braucht es, bis er nicht mehr auf die Kissen zurückfällt. Geht er durch die Räume seines Hauses in Wolfsburg, schiebt er einen Rollator vor sich her. Doch wenn er spricht und scherzt, mag man nicht glauben, dass er fast 100 Jahre alt ist.

Vom Schauspieler und Regisseur zum Besatzer

Er wollte eigentlich Schauspieler und Regisseur werden, erzählt er. Die Aufnahmeprüfung an der Deutschen Filmakademie in Berlin hatte er schon bestanden. Das war im Frühjahr 1939. Vor dem Studium wollte er noch seinen Armeedienst in der Wehrmacht ableisten. Dann kam der Krieg, der den 18-Jährigen hinaus in die Welt riss, nach Polen, Dänemark, Belgien, Frankreich, Spanien und schließlich bis nach Stalingrad. Wie Hunderttausende deutsche Wehrmachtssoldaten wurde Karl-Hans Mayer, der doch Theater spielen und Filme drehen wollte, zum Eroberer und Besatzer. Zu einem Menschen, der tötete.

Einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen

Heute, mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Ende des NS-Regimes, gehört Karl-Hans Mayer, 97 Jahre alt, zu den wenigen noch lebenden Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg von Anfang bis Ende als Soldat durchgekämpft haben – und sogar noch von Stalingrad erzählen können. Über die Schrecken dieses Krieges und das Töten will der alte Mann an diesem trüben Wintertag nicht sprechen. Fürchtet er um seine Geborgenheit, wenn er die Gespenster der Vergangenheit in sein gemütliches Wohnzimmer mit der prall gefüllten Bücherwand holt? Draußen, vor dem riesigen Panoramafenster, fällt Schnee auf den Rasen. Die Kälte bleibt ausgesperrt, so wie das Grauen und die Schuld.

Das nächste Foto im Album zeigt einen Bahnhof, ein prächtiges Gebäude mit einer Blumenrabatte in der Vorfahrt. Und plötzlich spricht Mayer doch vom Tod und vom Töten. „Das ist der Bahnhof von Saint-Omer, das liegt südlich von Dünkirchen“, beginnt er. „In dem Gebäude hatten die Engländer eine MG-Stellung und feuerten auf uns. Wir haben die beiden Soldaten…“ Er stockt, dann spricht er weiter. „Die waren dann tot. Wir haben sie am nächsten Tag in der kleinen Parkanlage vor dem Bahnhof beerdigt und zwei schwarze Holzkreuze auf das Grab gestellt.“ Vor einigen Jahren sei er mal wieder in Saint-Omer gewesen. „Da, wo unsere Kreuze standen, ist jetzt ein Erinnerungsstein für die zwei englischen Soldaten.“

„Da wurde nicht mehr fotografiert. Nur noch geschossen.“

Der alte Mann blättert schnell weiter, mehr will er nicht erzählen. Lieber zeigt er die Fotos, die ihn als lächelnden Besatzungssoldaten zeigen, mit jungen Frauen im Arm oder vor Autos, die er noch immer „Beutefahrzeuge“ nennt. Dann kommen Aufnahmen, auf denen er mit Dutzenden deutschen Soldaten auf einem Bahnhofsvorplatz steht. „Unsere Marschkompanie, das war im Sommer 1941 in Hamburg. Von dort fuhren wir ab Richtung Osten.“ Die restlichen Seiten des Fotoalbums sind leer. „Da war ich dann in Russland,“ sagt er und klappt das Album zu. „Da wurde nicht mehr fotografiert. Nur noch geschossen.“

Unternehmen Barbarossa

Zwei Wochen vor Mayers Verlegung an die Ostfront im Juli 1941 hatte die Wehrmacht die Sowjetunion überfallen. Das „Unternehmen Barbarossa“, so das Codewort für den Vernichtungskrieg im Osten, kam zunächst gut voran. In kurzer Zeit gelang es der Wehrmacht, die östlichen Landesteile zu besetzen, weil die politische und militärische Führung in Moskau von Hitlers Angriff überrascht wurde. Der Vormarsch der Deutschen stoppte erst im Dezember 1941 vor Moskau.

„Wir sind mit dem Zug bis Dünaburg gefahren, das liegt im heutigen Lettland“, erinnert sich Mayer. „Dort mussten wir über eine zerstörte Brücke laufen, auf der nur noch Eisenbahnschwellen lagen. Ich weiß noch, wie ein Kamerad abgerutscht und in die Düna gestürzt ist.“ Gab es Kampfhandlungen, war er an Angriffen beteiligt? Der 97-Jährige schüttelt unwillig den Kopf. Das wisse er nicht mehr, sagt er nur. Dann erinnert er sich doch: dass seine Sturmkompanie nördlich am umkämpften Moskau vorbeigezogen und bis Kalinin an der Wolga vorgedrungen ist. „In Kalinin wurde ich dann schwer verwundet am Bein, ich hatte einen Granatsplitter im Knie“, erzählt er.

Operation Fischreiher

Mayer wird ins Lazarett nach Litzmannstadt verlegt, wo man sein Bein wieder zusammenflickt. Nach der Genesung kehrt er an die Wolga zurück. Doch nicht nach Kalinin, sondern nach Stalingrad. Schirrmeister ist er nun, verantwortlich für die Panzer und Militärfahrzeuge seiner Division.

Es ist der Herbst 1942. Die „Operation Fischreiher“, Deckname für die Einnahme Stalingrads durch die 6. Armee unter Generaloberst Friedrich Paulus, hat sich festgefahren. „Die Front bewegte sich nicht, die Stadt konnte einfach nicht eingenommen werden“, erinnert sich Mayer. „Die Stimmung unter den Soldaten war schlecht.“ Der Nachschub stockt, die Truppe hungert, weil die Versorgung aus dem Hinterland nicht klappt. Unter den Soldaten sei schon von „Stalingrab“ gesprochen worden, erzählt er. Dabei stand der Winter mit dem dort üblichen strengen Frost noch bevor.

Zu dieser Zeit habe er von seinem Vorgesetzten einen Marschbefehl nach Deutschland bekommen, sagt Mayer. „Ich sollte nach Heidenheim, Ersatzteile für die Panzer besorgen. Ich hatte noch gesagt, was soll das bringen, unsere Panzer haben wir doch schon längst eingegraben, die fahren doch sowieso nicht mehr vor dem Winter.“ Aber der Offizier bestand darauf – und das war sein Glück. Wenig später, im November 1942, werden die Deutschen eingekesselt.

Seine Kameraden hat er nie wiedergesehen

Mayer fährt zurück nach Deutschland, belädt in Heidenheim vier Waggons mit Panzer-Ersatzteilen und macht sich auf den langen Rückweg an die Ostfront. Inzwischen ist Winter, Schnee und Kälte behindern das Fortkommen in den Osten. Als Mayer schließlich Odessa erreicht und den Verantwortlichen im Bahnhof nach dem nächsten Zug Richtung Stalingrad fragt, an den er seine Waggons anhängen kann, schüttelt der nur mit dem Kopf:„Stalingrad gibt es nicht mehr.“ Erst da erfuhr Mayer von der Kapitulation der 6. Armee im Kessel. „Meine Kameraden habe ich nie wiedergesehen.“ Etwa 150.000 Deutsche starben in den Kämpfen oder infolge von Hunger und Kälte im Kessel. Am 2. Februar jährt sich das Ende der Schlacht zum 75. Mal.

Mayer wird mit seiner Fracht nach Tiflis abkommandiert, von dort geht es für ihn weiter nach Stalino, dem heutigen Donezk. Das ist zu dieser Zeit noch in deutscher Hand, aber nicht mehr lange. Am 8. September 1943 erobert die Rote Armee die Stadt zurück, wenig später beginnt der Rückzug der Heeresgruppe Süd. Auch Mayer wird nun immer weiter Richtung Heimat verlegt. Als seine Division am 6. Mai 1945 aufgelöst wird, ist er schon in Tschechien. Zusammen mit einem Freund tauscht er die Uniform gegen Zivilklamotten und schlägt sich nach Bayern durch. In Selb greift sie eine amerikansiche Militärstreife auf. „Wir haben gesagt, wir seien Müllergesellen und auf Wanderschaft. Aber der Offizier lachte nur: So viele junge Männer, die jetzt Müllergesellen sind“, erinnert sich Mayer. Ein paar Tage später hätten ihn die Amerikaner an eine sowjetische Militäreinheit übergeben. Die folgenden zehn Jahre durchläuft er Arbeitslager in Brjansk, Gorki und Swerdlowsk und kommt schließlich auch zurück nach Stalingrad, wo er als Kriegsgefangener am Wiederaufbau der zerstörten Stadt mitwirkt.

Verlorene Jugend

So verliert er seine Jugend an den Krieg und das, was man heute „die besten Jahre“ nennt, in der Hölle der sowjetischen Gulags. Erst im Herbst 1955, mit Mitte 30, kehrt Mayer zu seiner Familie in Itzehoe zurück. Kurz zuvor hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer bei seinem ersten Besuch nach Kriegsende in Moskau die Freilassung der noch inhaftierten knapp 10.000 deutschen Kriegsgefangenen durchgesetzt. Als Spätheimkehrer erhält Mayer einen Job bei Volkswagen, wo er bis zu seiner Pensionierung bleibt.

Doch der Krieg lässt ihn nicht mehr los. Mayer schreibt Bücher. „Trauma Stalingrad“ heißt eines, andere tragen Titel wie „Gulag-Geschichten“ und „Stalins Strafjustiz gegen deutsche Soldaten“. Es sind keine Heldenerzählungen über deutsche Landser, aber auch keine kritischen Reflexionen über das Verbrechen des Jahrhunderts und die eigene Mitschuld. Auch heute, ein Dreivierteljahrhundert später, will Mayer darüber nicht diskutieren. „Wir waren Soldaten, keine Politiker“, sagt er nur.

Würdige Bestattungen für die Gefallenen

Den ehemaligen Feinden aber reicht er die Hand. Achtmal schon war er in Russland, wo er sich mit Veteranen der Roten Armee traf. Und im „Verein zur Bergung Gefallener in Osteuropa“ setzt er sich dafür ein, dass die Überreste sowjetischer und deutscher Soldaten von den einstigen Schlachtfeldern geborgen und würdig bestattet werden. So war er im April 2016 dabei, als in Alt Tucheband nahe der Oder die Überreste von achtzehn sowjetischen Soldaten, die im Endkampf um Berlin starben, auf dem Anger des Dorfes geborgen wurden. „Ich saß auf einem Stuhl und sah den jungen Leuten bei ihren Grabungen zu, als der russische Botschafter zu mir trat“, erzählt Mayer. „Er fragte mich, warum ich als ehemaliger Wehrmachtssoldat hier sei, das seien doch meine ehemaligen Gegner. Und ich sagte ihm, für mich seien es junge Menschen gewesen, die einfach nur leben wollten – genauso wie ich.“