Theologe Peter Hünermann: Was von Ratzinger bleibt
Köln - Professor Hünermann, da Benedikt XVI. nun seine Amtes ledig ist, können Person und Wirken wieder stärker in den Blick kommen. Was bleibt von Joseph Ratzinger?
PETER HÜNERMANN: Joseph Ratzinger spielt eine sehr wichtige Rolle für die Reformprozesse der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert und für das Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils. In der Reihe der Päpste ist er der letzte Konzilsteilnehmer. Bezeichnenderweise bestand seine letzte Amtshandlung vor seinem Rücktritt darin, dem römischen Klerus das Konzil noch einmal aus seiner Perspektive als Zeitzeuge nahezubringen.
Was ist das Besondere daran?
HÜNERMANN: Eine additive Auffassung vom Konzil, die zweierlei verbinden möchte: Altes und Neues, Tradition und Reform. Wie seine Vorgänger im Papstamt hat Joseph Ratzinger das Konzil als ein Ereignis des Übergangs verstanden. Das hängt eng mit seiner Biografie zusammen: Er ist groß geworden in der alten Zeit, mit der alten Theologie vor dem Konzil. Beides hat er mitnehmen und anschlussfähig halten wollen auch in einer neuen Epoche. Den eigentlichen epochalen Wechsel aber, den das Konzil markiert, hat er damit immer nur halbherzig vollzogen – sowohl in seiner wirklich intelligenten Theologie als auch in seiner Amtsführung.
Dann besteht seine Größe im Spagat?
HÜNERMANN: Ja, aber verstehen Sie das nicht lediglich als eine Äußerlichkeit. Hier stehen ganz wesentliche Fragen des Glaubens- und des Kirchenverständnisses zur Debatte. Ich glaube, diese Verantwortung hat Benedikt ganz deutlich gesehen.
Wie passt das Bemühen um "Anschlussfähigkeit" der Kirche, wie Sie es nennen, zu Ratzingers sprichwörtlicher Strenge in seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation?
HÜNERMANN: Da manifestierte sich exakt dieses Bewusstsein, für die Bewahrung der Tradition verantwortlich zu sein. Die Neuformulierung kirchlichen Selbstverständnisses auf dem Konzil war ja längst nicht sofort in den Köpfen der Theologen und in der Praxis der Bischöfe angekommen. Der eine Teil stand staunend vor diesem "Weltereignis", wie Karl Rahner das Konzil genannt hat, weil die Kirche zum ersten Mal die Welt in das Nachdenken über sich selbst integrierte. Der andere Teil fuhr erst einmal – wie gehabt - auf den alten Gleisen weiter. Und bei Joseph Ratzinger finden Sie beides.
Woran wird das sichtbar?
HÜNERMANN: Zum Beispiel an seinem unablässigen und letztlich vergeblichen Bemühen, die Piusbruderschaft wieder in die katholische Kirche zu integrieren. Ich hatte den Eindruck, er hat einfach nicht verstehen können, warum diese Leute partout nicht zurückkommen wollten. Eben weil sie - im Gegensatz zu Ratzinger – vom alten Gleis herunterkamen, ja nicht einmal die eine oder andere Weiche neu stellen wollten.
War er als Papst der richtige Mann zur richtigen Zeit?
HÜNERMANN: Ja, das würde ich sagen. Bei allen persönlichen und charakterlichen Grenzen waren seine wesentlichen Entscheidungen Marksteine für die Kirche auf ihrem Weg durch diese Zeit.
Was sticht da am meisten hervor?
HÜNERMANN: Der Rücktritt, ganz klar der Rücktritt. Vergleichen Sie das einmal mit der Endphase im Pontifikat Johannes Pauls II., der seine Krankheit bis zum öffentlichen Verstummen am Ostertag 2005 als persönliches Glaubenszeugnis im Amt verstanden hat. Dem hat Benedikt ein wesentlich anderes Amtsverständnis an die Seite gestellt, indem er gesagt hat: Ich bin nicht mehr in der Lage, den mir übertragenen Dienst zu leisten. Das ist eine im besten Sinn pragmatische Neubestimmung des Papstamtes, ohne dass die Theologie des Amtes angetastet worden wäre.
Steht das nicht in seltsamem Widerspruch zu der betont sakralen, rituellen Art, mit der Benedikt als Papst aufgetreten ist?
HÜNERMANN: Doch. Es stimmt, er war eigentlich ganz geprägt von einem sakral-monarchischen Begriff von Kirche, Weiheamt und Papsttum. Umso beeindruckender, dass er diesen 1000 Jahre alten Ballast am Ende radikaler abgeschüttelt hat als alle seine Vorgänger. Bedenken Sie: Noch Johannes XXIII. im Jahr 1958 und Paul VI. fünf Jahre später haben sich mit der Tiara, der dreifachen Papstkrone, krönen lassen. Und sowohl Paul VI. als auch Johannes Paul II. haben trotz schwindender persönlicher Kräfte eisern an ihrem Amt festgehalten - einfach weil sie glaubten, es aus theologischen Gründen nicht loslassen zu dürfen.
Der Rücktritt war also eine Art benediktinische Revolution von oben?
HÜNERMANN: Zumindest ein ganz wesentlicher Schritt nach vorn, der jetzt auch noch einmal neue Perspektiven eröffnet. Im Pontifikat von Papst Franziskus ist das bereits nach einem Jahr ganz klar sichtbar.
Woran zum Beispiel?
HÜNERMANN: Etwa an seiner Berufung dieses K-8-Beraterkreises aus acht Kardinälen von allen Kontinenten. Oder an seiner Aufwertung der Bischofssynode. Das Signal ist beide Male das gleiche: Franziskus will seinen Leitungsdienst in kollegialer Form vollziehen. Er definiert den päpstlichen Primat des Ersten Vatikanischen Konzils in institutioneller Weise neu, und zwar genau so, wie es das Zweite Vatikanum gewollt hat.
Nämlich?
HÜNERMANN: Der Papst ist und bleibt der Primus, aber er will Primus sein "inter pares", weil einer allein und isoliert die Kirche gar nicht leiten kann.
Und auch keine einsamen Entscheidungen treffen will?
HÜNERMANN: Genau. Man muss sich einmal in Erinnerung rufen, dass noch Paul VI., der ja nun wirklich ein Mann der Reform war, die Frage nach der Empfängnisverhütung oder auch nach dem Pflichtzölibat dem Konzil entzogen hat mit der Begründung, solch delikate Probleme könnten auf dem Konzil nicht entschieden werden. Franziskus geht genau den umgekehrten Weg und lässt das wohl größte unbewältigte Problem der Kirche seit dem Konzil - nämlich die Sexualmoral - synodal klären. Das ist ein hoch spannender Paradigmenwechsel, der erst nach Benedikt möglich war. Aber Benedikt hat gewissermaßen die Brücke geschlagen, über die Franziskus jetzt geht.
Wie werden die Katholiken in 100 Jahren Benedikt XVI. sehen?
HÜNERMANN: Als den letzten bedeutenden Theologen des 2. Jahrtausends auf dem Stuhl Petri und den letzten Papst einer zu Ende gehenden Epoche der Kirchengeschichte.