Thilo Mischke: „Sie sind für uns da, damit wir sie vergessen“
Unser Kolumnist Thilo Mischke ist als Reporter in der Ukraine. Und er hat ein Problem damit, in feinen Hotels zu übernachten, obwohl Bomben fallen.

Das Wasser ist kälter, als ich dachte. Mein Körper spannt, ich ziehe meine Schultern zusammen, ein kleiner, heller Schrei. Atme laut Luft ein, meine Arme bewegen sich hastig, der Geschmack von Salz auf meinen Lippen. Dann taucht der Kopf unter Wasser, ich atme befreit aus, und dann gleite ich auch schon.
Ein Meerwasserpool am Strand von Tel Aviv. In der dumpfen Taubheit unter Wasser will ich die Erfahrungen der letzten Tage auf 1,5 Kilometern vergessen. Kräftige Armzüge, angestrengte Beinbewegungen, vorbei an israelischen Omis und Hochleistungssportlern, die genau dem gleichen Muster im Schwimmbecken folgen wie in der Landsberger Allee. Im Weg schwimmen oder nerven.
Noch vor 48 Stunden habe ich in einem Hotel in Charkiw übernachtet. Hatte die Augen zu, geschlafen habe ich nicht, weil ich Angst hatte, dass wir von Artilleriefeuer getroffen werden. War auf dem Weg, um die Massengräber von Isjum zu besuchen. Anders kann ich das nicht nennen: besuchen. Wie eine Führung, wie ein Erlebnis werden die Leichen angepriesen. Die Presseoffiziere organisieren, rufen an, versprechen Busse, die sich am Morgen mit Journalisten füllen sollen. Damit die Bilder, die Geschichten der Opfer dieses Krieges, erzählt werden. Verdrehte Arme, gelbe Haut, der Geruch des Todes übersetzt in 4K für die Zuschauer zuhause.
Ich bin einer von ihnen: In feinen Hotels übernachten, obwohl Bomben fallen
Und ich habe große Schwierigkeiten damit. Journalisten aus Deutschland, rotweintrinkend im Hotel, im Fitnessstudio japsend, die ihre Zimmer im Fünf-Sterne-Palace-Hotel Charkiw anerkennend im Gespräch erwähnen. Journalisten, die in der Businessclass auf Kurzstreckenflügen anreisen, die nach drei Wochen nicht mehr können, weil dieser Krieg ja anstrengend sei.
Ich sitze mit ihnen in der Lobby verschiedener Hotels, wir tauschen Nummern und Geschichten wie Pokemon-Sammelkarten. Und während ich im Wasser meine Bahnen ziehe und darüber nachdenke, über diesen Zirkus, diesen Pressezirkus, fällt mir auf, dass ich einer von ihnen bin. Obwohl ich mir immer vorgenommen hatte, nicht so zu werden. Mit einem Fallschirm in einem Kriegsgebiet abgeworfen, in feinen Hotels übernachten, obwohl die Bomben fliegen, das Essen loben, obwohl die Sperrstunde nahe ist.
„Eine Sekunde noch“, sage ich in Charkiw zu den Kellnerinnen im Restaurant, meine Kollegen essen hastig. Und ich vergesse dabei die Angst in den Gesichtern der Menschen, die uns Journalisten in diesem Krieg bedienen. Sie bringen uns Essen, fahren uns an die Front, sie besorgen uns Geschichten, sie übersetzen, sie passen auf, dass wir nicht sterben. Sie sind für uns da, damit wir sie vergessen. Die heldenhaften Leistungen deutscher Journalisten sind nicht selten das stille Überleben der Kollegen vor Ort. Die Leistung ist: Da sein, die richtigen Kontakte haben. Oft nicht mehr. Die Wirkung ist aber wichtig. Aus der Ukraine zu berichten bedeutet auch, diesen Krieg besser verstehen zu können. Diesen Konflikt besser einzuordnen zu können.
Ein Biom menschlicher Helfer um einen herum
Jeder der Tausenden Journalisten hier in diesem Land hat eine Traube aus Ukrainerinnen und Ukrainern um sich herum. Ein Biom menschlicher Helfer. Auch ich. Vlad, der Fahrer, der vor dem Krieg Setdesigner für Werbefilmdrehs war und jetzt Raucher ist, der das gepanzerte Fahrzeug fährt, in dem ich wie ein teures Gut durch dieses Land chauffiert werde. Zenia, der Student, der jetzt in seiner Freizeit Drohnen umbaut, um damit Russen zu töten.
Der Bus nach Isjum ist ausgefallen. Ich habe die Gräber nicht gesehen, bin stattdessen in ein befreites Dorf gefahren. Journalisten fallen auch hier aus den Autos und nagen an den Bewohnern, nagen, um an die Geschichten zu kommen.
Ich kaufe mir einen 3-1-Kaffee und unterhalte mich flüsternd mit dem Verkäufer. „Vor dem Krieg war der Kaffee auch nicht gut“, sagt er. Und ich muss lachen. „Nach dem Krieg wird er auch noch schlecht sein“, sage ich. Und dann erzählt er mir, dass er die Stadt nicht verlassen konnte, weil er kein Geld hat. Im Keller würde er leben. Mit den Kindern und der Frau. „Noch einen Kaffee?“, fragt er. Und ich schüttle den Kopf.
Ich schaffe es heute nicht, die 1,5 Kilometer zu schwimmen, ich bin zu erschöpft. Außerdem muss ich noch mit dem Kollegen vor Ort sprechen. Morgen soll ich Soldaten vom IDF interviewen, die den Iron Dome in Israel bedienen.