Das wohl prominenteste Ex-Mitglied der SPD, Thilo Sarrazin, empfängt in seinem Haus im Westen der Stadt. Der Fototermin findet im Garten statt. Von der benachbarten Schule dringt Kinderlärm - was Sarrazin die Gelegenheit zu ein paar abfälligen Bemerkungen über das Berliner Schulsystem gibt.
Im Gespräch geht es um seine frühere Partei: Während aktuell 14 Anträge auf einen Parteiausschluss Gerhard Schröders vorliegen, wollten wir vom ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bestsellerautor wissen: Wie fühlt sich ein Rausschmiss an, und gibt es eigentlich ein Leben nach der SPD?
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Berliner Zeitung: Herr Sarrazin, haben Sie eigentlich noch Kontakt zu Parteifreunden aus der SPD?
Thilo Sarrazin: Ja, habe ich. Wenn man so lange in der Politik war, bleibt natürlich die eine oder andere Freundschaft.
Es gibt also doch Freundschaften in der Politik?
Ich bin meist drei bis sieben Jahre bei einer beruflichen Station geblieben. Dann hat man einen Kreis von Kontakten, 20 bis 30 Leute vielleicht, die man kennt und teilweise schätzt. Davon bleiben dann normalerweise ein, zwei Freundschaften übrig. Und so sammelt sich das an über das Berufsleben weg.
Welche Ihrer vielen Stationen war für Sie selbst denn die interessanteste?
Am wichtigsten waren wohl die beiden Jahre, die ich der deutschen Währungsunion und der Deutschen Einheit gewidmet habe. Da habe ich auch, wenn man so will, einen kleinen historischen Fußabdruck hinterlassen. Das war sicherlich die wichtigste Zeit. Die Zeit, wo ich als Person am mächtigsten war, das waren die Jahre von 1982 bis 1989, als ich im Bundesfinanzministerium für die Finanzen von Bahn und Post zuständig war. Die Phase mit der größten Außenwirkung, das waren sicherlich meine siebeneinhalb Jahre als Finanzsenator in Berlin.
Kommen wir mal zur SPD. Als Sie 2020 aus der Partei ausgeschlossen wurden, sagten Sie, Sie würden dagegen klagen. Warum haben Sie darauf verzichtet?
Ich habe am Ende davon abgesehen, weil es ein bisschen ist wie in der Disco: Wenn man drinnen ist, wehrt man sich dagegen, rausgeschmissen zu werden. Steht man vor der Tür, findet man es ein bisschen albern, zu sagen, ich will wieder rein. Man ist natürlich emotional in der Situation auch gefangen. Ich fühlte mich schlecht behandelt, auch im Nachhinein sehe ich das so, ja, aber wenn man dann draußen ist, tritt plötzlich auch eine gewisse psychologische Distanz ein. Ich könnte aber immer noch jederzeit gegen den Ausschluss klagen. Da gibt es keine Fristen.
Aber Sie wollen nicht?
Nein, weil das nicht mehr die SPD ist, in die ich 1973 eingetreten bin. Ich hatte damals wirklich den Eindruck, das sei ein liberalerer Verein, auch oder vielleicht auch, weil alles um den Kampf links oder rechts ging, auch in der Untergruppe der SPD-Langzeitkommission über Wirtschaftspolitik, für die ich als Kommissionssekretär 1973/74 zuständig war. Aus dieser Zeit gibt es viele Veröffentlichungen von mir zur Parteiprogrammatik. Das ergab sich aus der damaligen Diskussion. Damit habe ich aber dann nach einigen Jahren aufgehört, und dann habe ich an sich mit der SPD nichts weiter zu tun gehabt. Ich war in der Ministerialbürokratie und hatte mit Parteipolitik völlig abgeschlossen. Erst als ich in Berlin war und die SPD-Politiker alle kennenlernte, da kam es dann irgendwann dazu, dass eben Wowereit sagte: Willst du nicht Finanzsenator werden?
Aber haben Sie sich jemals als echter Sozialdemokrat gefühlt?
Ich habe es in den 70er-Jahren als eine wichtige Aufgabe gesehen, die SPD auf einem Kurs der sozialen Marktwirtschaft zu halten und auch zu lenken. Und da habe ich dann auch die ganze Kraft meiner Jugend reingesteckt. Aber schon damals habe ich mir gesagt, niemals wirst du Abgeordneter oder Mandatsträger und niemals wirst du Angestellter der Partei. Und seitdem ich Anfang 1975 ins Bundesfinanzministerium kam, war ich immer in relativ einflussreichen Positionen. Auch wenn ich zunächst keinen so hohen Rang hatte, so hatte ich doch das Gefühl, dass ich wesentlich mehr gestalten konnte, als ich das je über ein Mandat als Abgeordneter oder über eine Parteifunktion hätte tun können.

Da würden viele Abgeordnete widersprechen.
Bei der üblichen Parteilaufbahn verbringt man Jahre in Hinterzimmern, man muss aufpassen, dass man darüber nicht Familie, Studium und so weiter vernachlässigt, wenn man das macht. Dann bekommt man irgendein Mandat auf kommunaler Ebene und wird, wenn man Glück hat, Landtagsabgeordneter oder Bundestagsabgeordneter. Dann ist man aber immer noch zehn bis 20 Jahre weg von Funktionen, die wirklich Macht verleihen. Und dann hat man womöglich endlich das Amt, und es zeigt sich, dass man dafür völlig ungeeignet ist. Ich kenne Beispiele aus dem Berliner Senat. Ich habe mich nie als Mann der ersten Linie gesehen. Auch nicht als großartigen Redner oder gar Volkstribun. Aber in der Ministerialbürokratie gab es immer wieder Phasen, wo ich das Gefühl hatte, hier kann ich etwas bewirken. Und immer wenn ich das Gefühl hatte, das, was ich tun kann, hat sich erfüllt und ist abgeschlossen, dann habe ich mir ein anderes Arbeitsgebiet gesucht.
Wie bewerten Sie die derzeitige Entwicklung der SPD? Es ist ja noch kein Jahr her, dass man gedacht hätte, sie steuert auf eine deutliche Wahlniederlage zu. Jetzt ist die SPD wieder da, wem hat sie das zu verdanken?
Olaf Scholz scheint mir schon ein recht kluger Mann zu sein. Ich hatte zum ersten Mal im Jahr 2010 mit ihm Kontakt, als der Skandal um mein Buch „Deutschland schafft sich ab“ hochkochte. Einen Tag nach dem Erscheinen des Buches war ich in der Talkshow von Reinhold Beckmann, die eigentlich eher ein Hinrichtungskommando war. Olaf Scholz war kurzfristig auch eingeladen worden, weil man noch einen von der SPD brauchte, der auch auf mich draufhaute. Olaf Scholz sagte aber in dieser ganzen Talkrunde konsequent gar nichts.
Olaf Scholz sagte zu mir: Ich sag dir mal eins, Thilo. Wahrheit gibt es nicht. Wenn wir wollen, dass du rausfliegst, fliegst du raus. Und wenn wir es nicht wollen, dann bist du nicht raus.
Das war doch gut, oder?
Ich war nach der Sendung ziemlich aufgebracht. Ich habe den Beckmann fürchterlich beschimpft, weil ich unfair behandelt wurde, und sprach dann kurz mit Olaf Scholz. Ich sagte ihm, das ist doch eigentlich alles völlig absurd, man muss doch auch mal über die Wahrheit reden. Da antwortete er: Ich sag dir mal eins, Thilo. Wahrheit gibt es nicht. Wenn wir wollen, dass du rausfliegst, fliegst du raus. Und wenn wir es nicht wollen, dann bist du nicht raus. Das habe ich mir gemerkt. Olaf Scholz ist mir damals als absolut cool aufgefallen und auch mit einer großen Distanz zu sich selbst und zur Sache. Es macht einen natürlich stark, wenn man zur Sache eine ausreichende Distanz hat.
Die Coolness als Selbstzweck?
Seine Macht ist Taktik. Und damit kam er bisher ja sehr weit. Seine stärkste Leistung fand ich, dass er nach dieser schmählichen Niederlage in der Konkurrenz zum Parteivorsitzenden praktisch ins zweite Glied trat, sich Walter-Borjans und Esken mehr oder weniger untergeordnet hat und aus dieser Position im zweiten Glied dann erstens die Kanzlerkandidatur und dann auch noch die Wahl gewonnen hat. Ob diese Mentalität über die ganze Kanzlerschaft trägt, daran darf man Zweifel haben. Man sieht ja auch, wie er jetzt in vielen Dingen ein bisschen ins Stolpern gerät.
Lars Klingbeil saß mir gegenüber und erging sich in allgemeinen Beschimpfungen.
Aber wenn Sie sagen, dass er zu Ihnen gesagt hat, Wahrheit gibt es nicht, dann ist das doch auch unfassbar zynisch, oder?
Ich hatte irgendwie gedacht, ich muss mal über Inhalte reden können, aber Inhalte interessieren nicht. Das war genau das, was dann auch meine Erfahrung in dem dreistufigen Ausschlussverfahren war. Lars Klingbeil saß mir gegenüber und erging sich in allgemeinen Beschimpfungen. Ich solle doch in die AfD eintreten und mal den Mut haben, zu bekennen, dass ich doch ein Rechtspopulist sei. Ich sagte immer, er soll mir ein einziges Zitat nennen aus irgendeinem Text von mir, das jetzt nachweislich falsch ist. Ich wollte ihn einfach nageln, aber das hat er in drei mündlichen Verhandlungen konsequent vermieden.
Würden Sie sagen, dass Sie auch aus der Partei ausgeschlossen sind, weil Sie letztlich ein Außenseiter waren? Anders als Gerhard Schröder, der ja noch immer Freunde in der SPD hat, die ihn auch besuchen.
Letztlich hatte ich meine Funktion für die Partei erfüllt. Ich war aus deren Sicht jenseits der Ämterphase, hatte aber einen großen öffentlichen Einfluss. Es hat die Partei einfach total geärgert, dass sie ständig nach Positionen von mir gefragt wurde. Egal was das nun war, ob es jetzt um kulturfremde Einwanderung, um den Islam, um das Asylrecht oder um Bildungspolitik ging, das wollten die einfach nicht länger dulden.
Allerdings waren das ja auch nicht gerade die gängigen SPD-Positionen, wenn man es mal vorsichtig ausdrückt, oder?
In meinem Fall haben sich die Parteilinken durchgesetzt. Und dann fiel irgendwann die politische Entscheidung im Parteivorstand: Jetzt machen wir ein Ausschlussverfahren. So wurde das entschieden. Genau nach der Manier von Scholz. Wenn wir das wollen, dann machen wir das, und das haben sie dann durchgezogen und waren an allen Fragen, die man inhaltlich diskutieren könnte, nicht interessiert.
Das gleiche Schicksal müsste aber jetzt doch auch Gerhard Schröder treffen, oder? Kann die SPD ihn noch tolerieren?
Ein Thilo Sarrazin wird ausgeschlossen, weil er den Islam kritisiert und weil er das Asylrecht reformieren will. Aber Gerhard Schröder kann einen Kriegsverbrecher unterstützen und wird nicht ausgeschlossen, das stimmt. Aber ich glaube, dass Schröder in seiner geistigen Leistungsfähigkeit mittlerweile beeinträchtigt ist. Die New York Times schreibt, dass er während des Interviews reichlich Wein getrunken hat. Ich glaube, dass er nicht versteht, was vor sich geht. Er hätte vor dem Überfall auf die Ukraine sagen können, dass er seine Ämter niederlegt, auch mit dem Verweis auf sein Alter, und dass er nun in den Ruhestand geht. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Jetzt hat er seinen Ruf zerstört.
In der SPD wird nun wegen des Krieges über den weiteren Kurs gestritten. Die Partei tut sich schwer wegen der Waffenlieferungen. Wie sehen Sie die Situation?
Ein großer Teil der SPD hat ein emotionales Verhältnis zum Marxismus und davon bis heute nicht Abschied genommen. Dass der Marxismus intellektuell und moralisch gescheitert ist, haben viele noch nicht verarbeitet. Damit einhergehend gibt es auch einen gewissen Sympathietransfer auf Russland. Das Ganze wird dann noch mit einem gewissen Antiamerikanismus garniert. Das hat man nie richtig reflektiert.
Wie sehen Sie die Zukunft der Partei?
Ich sehe die SPD ja jetzt von außerhalb. Man muss feststellen, dass alle klassischen Volksparteien Schwierigkeiten haben. Das sehen wir auch in anderen Ländern wie Frankreich, Italien oder Holland. Die SPD hatte aber bisher das Glück, dass sie doch einige recht attraktive Kandidaten hat. Wenn man sich etwa ansieht, was Frau Rehlinger im Saarland geschafft hat, oder Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz. Auch Franziska Giffey kann man nennen. Diese attraktiven Kandidatinnen kommen ja meist von der rechten Seite der Partei. Oder sie wandern auf die rechte Seite, werden dann aber von den Linken toleriert. Das sieht man ja wunderbar, auch jetzt hier in Berlin. Das kann die SPD noch ein Stück weit tragen. Aber man sieht an der CDU, was passiert, wenn attraktive Amtsträger fehlen. Das kann auch der SPD passieren.