Tödliche Messerstecherei in Neukölln: Eine Frage der Bewaffnung

Berlin - Rot und leuchtend gelb – die bunten Farben der Blumen sind schon aus der Ferne zu erkennen. Aus einer solchen Ferne, dass jedem Besucher lange vor Betreten des Vorgartens klar ist: Dies ist der Ort, an dem am vergangenen Sonntag ein 18 Jahre alter Jugendlicher erstochen wurde. Ein Vorgarten, gelegen in der High-Deck-Siedlung in der Fritzi-Massary-Straße, am Ende der Sonnenallee. Ein Tatort in Berlin-Neukölln.

Die Blumen lehnen an einem Findling, machen ihn zum Grabstein. Davor steht ein Junge und weint. Er ist 15 Jahre alt, und er ist an diesem Tag bereits zum fünften Mal zum Stein gekommen. Der Tote Jusef El-A. sei ein Freund seines Bruders gewesen, sagt er. Zwei junge Frauen kommen und legen weitere Blumen neben den Stein.

Kerzen brennen, in den Rabatten liegen Gebete auf Arabisch und Briefe an den Toten – mit kleinen Steinen beschwert, damit sie nicht wegfliegen. „Du hattest so ein nettes Lächeln“, schreiben zwei Mädchen. Der Junge am Stein wischt seine Tränen weg, aber es quellen wieder neue hervor. „Er war noch so jung“, sagt der Junge. Dieser gepflegte Vorgarten ist jetzt ein Ort der Trauer. Ein Mensch ist gestorben. Genau hier.

Erst Streit, dann Hiebe

Es gibt verschiedene Darstellungen, wie es zu der Messerstecherei gekommen ist. Alles begann am Sonntagnachmittag in der Nachbarsiedlung, vier Stationen mit dem Bus die Sonnenallee hinauf. Hier wohnte der Tote, hier wohnen auch die, die jetzt trauern. Auf dem dortigen Bolzplatz spielten Halbwüchsige. Dann gab es erst Streit, später auch Hiebe. Erwachsene Deutsche mischten sich ein, unter ihnen auch einer namens Sven – jener Mann, der später zusticht. Was genau vorfiel, ist unklar, sicher ist nur, dass am Abend 15 bis 20 arabische Jungs vor dem Haus in der Fritzi-Massary-Straße auftauchen, in dem Sven wohnt. Wohl um ihn zu verprügeln und offenbar ausgestattet mit Messern, Baseballschlägern und Schlagstöcken. Verwandte des Toten sagen zwar, die Jungen seien nicht bewaffnet gewesen, aber die Polizei findet später sogar ein Samuraischwert in einer der Hecken.

Warum Sven sich der Gruppe gestellt und auch noch ein Küchenmesser mitgenommen hat, weiß niemand. Den Erkenntnissen der Polizei zufolge lag er irgendwann am Boden und viele seiner Angreifer auf ihm. In dieser Situation begann er wohl um sich zu stechen, traf Jusef ins Herz. Sven selbst erlitt einen Schädelbasisbruch. Jusef starb – neben dem Stein im Vorgarten. Der Blutfleck ist noch da.

Vier weitere Jugendliche tauchen jetzt am Tat- und Trauerort auf – 14, 15 und 16 Jahre alt. Sie sehen noch sehr kindlich aus, schmächtiger Körperbau, glatte Jungsgesichter. Auch Jusef sei mal zarter und dünner gewesen, aber dann habe er trainiert, sagen die vier. Sie wollen dabei gewesen sein, am Sonntag. Und dann zeigen sie, was sie in den Taschen haben. Klappmesser, ganz kleine und etwas größere. Nur einer sagt, sein Bruder habe ihm verboten, auch ein Messer zu tragen. Aber er hätte gern eins. Es ist nicht nur so, dass die Jungen ihre Messer vorzeigen, als ob es den Sonntag nicht gegeben hätte. Sie sagen auch, sie würden jetzt erst recht ein Messer mitnehmen. Man könne ja nie wissen, ob nicht wieder einer käme mit so einer langen Klinge. Und dann sei es doch besser, bewaffnet zu sein.

Ein Kiez, in dem etwas nicht stimmt

Die Jungen wohnen dort, wo der Streit begonnen hat. In jener Siedlung etwas weiter die Sonnenallee hinauf. Sie wird Weiße Siedlung genannt nach der Farbe der Hochhäuser. Es ist ein Kiez mit Problemen. 4.000 Bewohner, knapp 20 Prozent arbeitslos, viele davon unter 25 Jahren. Weitere 40 Prozent leben von Staatsleistungen. Die Quote der Kinder unter 15 Jahren, deren Existenz auf diese Weise gesichert werden muss, liegt bei 75 Prozent. Über 80 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Viele Zahlen, die alle eine Bedeutung haben: In dieser Siedlung stimmt etwas nicht.

Das Problem ist bekannt, der Berliner Senat versucht, durch das sogenannte Quartiersmanagement die sozialen Probleme und den Frust abzufedern. Es gibt einen Nachbarschaftstreff, Sommerfeste, Projekte an der Grundschule. Es geht ums Mitmachen. „Wir wollen die Bewohner einbeziehen. Nur wenn sie sich mit ihrer Siedlung identifizieren, können wir Erfolg haben“, sagt die Quartiersmanagerin Cindy Gill. Sie sitzt an einem großen Tisch in der Erdgeschosswohnung von einem Hochhäuser. Von hier aus organisiert sie normalerweise die Aktivitäten für die Bewohner, jetzt beantwortet sie alle Fragen, die sich nach dem Tod von Jusef aufdrängen.