Trauerakt für Helmut Kohl: Ein Abschied für Giganten

Straßburg/Speyer - Zu Wasser, zu Lande und in der Luft – die Vorstellung, wie sein letzter Weg verlaufen würde, dürfte Helmut Kohl gefallen haben. Dieser Samstag bietet alle Ingredienzien, die den Abschied vom „Kanzler der Einheit“ gravitätisch und weihevoll machen: den Staatsakt im Europäischen Parlament, die Überführung nach Deutschland mit Trauerkorso durch seine Heimatstadt und eine Rheinfahrt des Sargs, wie es sie zuvor nur für Konrad Adenauer gegeben hatte, schließlich die Totenmesse im Kaiserdom, militärisches Salut und die Beerdigung. 

So ist Helmut Kohls letzte Reise mit Symbolik übervoll geladen, biografischer und politischer, privater und archaischer: Sie endet am Abend bei Glockengeläut und blauem Himmel in Speyer, doch sie beginnt am Morgen unter dichten Wolken in Frankreich. Auch das ein Symbol, von historischem Rang sogar: Noch nie hat es einen „Europäischen Staatsakt“ für einen Verstorbenen gegeben. 

Kohls Weggefährte, der heutige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte jenen Begriff in Umlauf gebracht, der auch für Irritationen sorgte, aber vor allem signalisieren sollte: Es geht um eine besondere Ehrung Europas für einen „politischen Riesen“, wie es EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani nun als erster von acht Rednern formuliert.

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„Kohl Ceremony“

Der Verwaltungsapparat im EU-Parlament hat daraus schlicht und einfach die „Kohl Ceremony“ gemacht – und das trifft es.

Das Porträt des Verstorbenen, auf einer Staffelei hinter dem Sarg unter der blauen Europa-Fahne, ist ein Foto aus den letzten Lebensjahren. Es zeigt Kohl, gezeichnet von Krankheit, aber mit einem stillen Lächeln.

Nachkriegsgigant, europäisches Monument, treuer Freund

Insbesondere Juncker selbst, noch mehr aber der frühere US-Präsident Bill Clinton machen das staatstragende Zeremoniell für den Politiker auch zu einem persönlichen Gedenken an den Menschen Helmut Kohl.

Zwar spricht auch Juncker von ihm als einem „Nachkriegsgiganten“ und „europäischen Monument“, aber eben auch von einem „treuen Freund“, von dem er nun Abschied nehmen müsse.

An „Maike, meine Freundin“ gewandt, schildert Juncker bewegende Momente, wie jenen 1997, als Kohl während eines Banketts anlässlich der EU-Osterweiterung um das Wort bat: „Ausnahmsweise, denn normalerweise nahm er es sich“, erzählt Juncker – und Angela Merkel auf ihrem Stuhl vor der ersten Bankreihe lächelt ihrem Sitznachbarn, Frankreichs Präsident Macron, wissend zu. Kohl habe die Integration der Osteuropäer als einen der glücklichsten Tage seines Lebens bezeichnet und „minutenlang geweint, presst Juncker mit belegter Stimme heraus: „Europe at its best“.

Der Deutsche, der ein europäisches Deutschland wollte

Bill Clinton zieht emotional ein ähnliches Register. Nur noch voller, noch pathetischer. Er erinnert die Anwesenden daran, dass „wir alle einmal in einmal in einem Sarg liegen werden“. Vorher die Chance bekommen zu haben, „sich an etwas zu beteiligen, das größer ist als wir selbst“, nämlich an der Zusammenarbeit der Völker in Vielfalt und im Verzicht auf Dominanz einer Nation über die andere – das sei Kohls Verdienst. 

Der Deutsche, der kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland wollte, sei ein Mann voller Appetit gewesen. „Hillary hat mir einmal gesagt, ich liebe ihn, weil er der Einzige ist, der das Essen noch mehr liebt als ich.“ Aber Kohls Hunger habe nicht nur dem Essen gegolten. Er sei hungrig nach einem besseren Leben gewesen, verlangte nach einer besseren Welt, einer „besseren Zukunft für unsere Kinder“. So schildert Clinton Kohl. „Sleep well, my friend, du hast einen guten Job gemacht“, sagt er zum Schluss, geht am Sarg vorbei und salutiert knapp mit der rechten Hand.

Emmanuel Macron unverkennbar der Youngster

Unter all den Großen, die dem toten Helmut Kohl ihre Reverenz erweisen, ist Emmanuel Macron unverkennbar der Youngster. In seiner Rede hebt Macron darauf ab, dass seine Altersgenossen und er Kohl nicht mehr aktiv erlebt hätten: „Für meine Generation ist Helmut Kohl schon Teil der Geschichte.“ Er spricht offen wie kein anderer hier Europas aktuelle Krise an und verspricht, zusammen mit Merkel den Geist von Kohls „Aufbauwerk“ zu bewahren, „gefestigt von Freundschaft“ dem europäischen Projekt „wieder Sinn und Dichte verleihen“. Mit dem Generationenwechsel, den Macron verkörpert, kommt in der Feierstunde so auch ein Perspektivwechsel zum Tragen: von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft.

Clintons Charisma oder Macrons Leidenschaft sind Merkels Sache erkennbar nicht

Als letzte Rednerin spricht dann die Angesprochene, die Deutsche, die von Kohl Entdeckte. Clintons Charisma oder Macrons Leidenschaft sind Merkels Sache erkennbar nicht; wie immer, wenn die Kanzlerin betont gemessen sprechen will, klingt sie eher hölzern, als sie Kohls Lebensleistung abspult.

Dann wird sie aber doch persönlich – sofort gewinnt ihre Rede an Dichte und Bewegung: Schon als sie noch in der DDR lebte, hätten Kohls Zuversicht und seine Erwartung der Wiedervereinigung ihr und ihren Landsleuten Kraft gegeben. Aus eigener Erfahrung könne sie erzählen, wie er sich um die Menschen in seiner Umgebung gekümmert, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stand. „Ohne Sie wäre das Leben von Millionen Menschen in der damaligen DDR völlig anders verlaufen, natürlich auch meines“, endet Merkel. „Danke für die Chancen, die Sie mir gegeben haben.“

In ihren Dank an den Verstorbenen schließt Merkel Hannelore Kohl, die erste Frau des Verstorbenen, ein und erwähnt die anderen Familienmitglieder, die um ihn trauern. Beides ist nicht unheikel angesichts der schmerzhaften Verwerfungen in Kohls Familie. Seine Söhne und Enkelkinder sind weder nach Straßburg, noch nach Speyer gekommen.

Zugleich wendet Merkel sich der Witwe zu, die Kohl „voller Hingebung und Liebe begleitet“ habe, bis zuletzt. „Ihnen gehört mein Mitgefühl.“ Ob sie Maike Kohl-Richter damit erreicht, ist schwer zu sagen. Die Witwe hat die Augen hinter einer dunklen Brille verborgen, ihren Hut tief ins Gesicht gezogen. Als Merkel ihr am Rande persönlich das Beileid ausspricht, verzieht sie keine Miene.

Unmittelbar nachdem National- und Europahymne gesungen sind und der Sarg aus dem Saal getragen worden ist, verlässt auch sie das Rund, wo sich an diesem Vormittag fast alles versammelt hat, was in der europäischen Politik Rang und Namen hat oder hatte.

Nur von der „Anteilnahme der Bevölkerung“, die bei solchen Anlässen gern bemüht wird, ist hier nichts zu bemerken: Straßburg wirkt wie evakuiert – ein Tribut an die Sicherheit.

Das Volk sammelt sich erst in Deutschland, wo der Hubschrauber am Nachmittag den Sarg absetzt, der – nun nicht mehr mit blauer Europafahne, sondern mit Schwarz-Rot-Gold bedeckt – im schwarzen Leichenwagen durch Ludwigshafen fährt, nur begleitet von Kohls Witwe und ihren engsten Vertrauten, Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann sowie Stephan Holthoff-Pförtner, Kohl-Anwalt und neuer Europa-Minister in NRW.

1500 Ehrengäste im Dom zu Speyer

In seiner Heimatstadt, wo auch Enttäuschung darüber herrscht, dass Kohl am Abend in Speyer statt in Ludwigshafen beerdigt wird, säumen einige Hundert Menschen die Strecke.

Rosen werden abgelegt, Handyfotos gemacht, als die schwarze Wagenkolonne vorbeirauscht, schweigen die meisten, viele klatschen. Noch nieselt es. Doch als der Sarg den Rhein erreicht und mit dem Regierungsschiff „MS Mainz“, auf dem Kohl einst selbst mit Staatsgästen über den deutschen Schicksalsstrom schipperte, stromaufwärts fährt, reißt der Himmel auf.

Im Dom sind 1500 Ehrengäste, etwa noch einmal so viele Bürger verfolgen die katholische Totenmesse draußen auf Leinwänden, Platz wäre für 3500 gewesen.

„Patriot und Europäer“

Der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann spricht in seiner Predigt viel von Kohls Heimatliebe, erwähnt Saumägen und Staatsgäste, die Witwe und die Familie. Unter den Zuhörern sind neben Angela Merkel und den Ehrengästen aus Straßburg nun auch Bundespräsident Steinmeier, Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle und Bundestagspräsident Lammert. „Patriot und Europäer“, sagt der Bischof, als kommentiere er auch die Debatten vor den Feierlichkeiten, „das waren für Kohl zwei Seiten einer Medaille.“ Dann steigt Weihrauch auf im Kirchenschiff des Doms, einem der gigantischsten Europas.