Berlin - Es liegt ein großer Druck auf Angela Merkel, Martin Schulz und Horst Seehofer bei ihrem Gang nach Bellevue. Zehn Wochen nach der Bundestagswahl ist im stärksten EU-Land noch immer keine stabile Regierung in Sicht - und das in einer Zeit, in der Nationalismus die Einheit Europas belastet. Die Rechtspopulisten der AfD warten nur darauf, die anderen Parteien vorzuführen. Deutschland als Stabilitätsanker in der EU und weltweit - gilt das noch? Alle drei Chefs der nur noch geschäftsführend agierenden Großen Koalition sind angeschlagen.
Bringt der Bundespräsident die Parteien auf Kurs?
Schafft es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Kanzlerin, den SPD-Chef und den CSU-Vorsitzenden bei der Regierungsbildung auf Kurs zu bringen? Schnelle Resultate sind in diesen Tagen nicht zu erwarten. Vor dem Treffen im Schloss Bellevue, dem Berliner Amtssitz des Staatsoberhaupts, hatten sich alle Seiten vorgenommen, nichts nach außen dringen zu lassen. Erst sollten an diesem Freitag die Parteigremien über die Inhalte informiert werden.
Die Hängepartie an der Spitze des Landes dürfte auch nach dem Spitzengespräch nicht rasch beendet werden - dafür sind die Positionen zwischen Union und SPD, aber auch innerhalb der einzelnen Parteien zu festgefahren. Dass vor Weihnachten noch Sondierungen über eine Neuauflage der ungeliebten GroKo starten könnten, glaubt in Berlin kaum jemand. Er wäre schon ein Erfolg, auch für Steinmeier, wenn sie sich zu Sondierungen noch vor Weihnachten verabreden würden.
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Wie ist die Lage für die einzelnen Seiten?
CDU:Parteichefin Merkel will eine Minderheitsregierung und eine Neuwahl unbedingt vermeiden. Auch angesichts internationaler Krisen um die starken Männer Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan setzt sie auf eine möglichst stabile Regierung und damit knapp zwei Wochen nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung auf eine Fortsetzung der schwarz-roten Koalition.
Eine Minderheitsregierung würde aus ihrer Sicht eher über kurz als lang zur Neuwahl führen - zu mühsam könnte die Mehrheitsfindung im Bundestag werden. Eine Lähmung des parlamentarischen Systems dürfte nur der AfD in die Hände spielen, glaubt die Kanzlerin.
Stattdessen lobt sie die Bemühungen Steinmeiers, die Gespräche mit der SPD wieder in Gang zu bekommen. Merkel dürfte darauf hoffen, dass der Bundespräsident seinen Parteifreund Schulz daran erinnert, dass Sozialdemokraten in historisch schwierigen Lagen immer Verantwortung übernommen haben.
CSU: Horst Seehofer steht in diesem Fall eng an der Seite Merkels. Denn für den in einen harten Machtkampf mit dem Erzrivalen Markus Söder verwickelten bayerischen Ministerpräsidenten dürften bei einer Neuwahl die Chancen auf eine politische Zukunft sinken. Kommt es zu einer Neuauflage von Schwarz-Rot, spekuliert er wohl auf einen Platz als mächtiger Minister an Merkels Kabinettstisch, so glauben Parteifreunde.
Doch erstmal stehen für Seehofer CSU-interne Machtproben an: Am kommenden Montag will er seine Zukunftspläne erklären, Mitte Dezember muss er einen Parteitag überstehen. Egal, wie der Machtkampf in Bayern ausgeht: An ihrer Position als Regierungspartei im Bund will die CSU nicht rütteln.
SPD: Schulz hält sich nach außen hin alles offen. Nach seinem kategorischen Nein zur Neuauflage des Bündnisses mit der Union ist er umgeschwenkt auf einen Wir-können-über-alles-reden-Kurs. Die Erlaubnis dazu muss sich Schulz beim Parteitag nächste Woche holen. Die SPD-Führung will die Basis nicht überrumpeln. Schließlich ist der Widerstand gegen eine neue große Koalition unter den Sozialdemokraten groß. Die einen verteufeln die GroKo, die anderen appellieren an die staatspolitische Verantwortung und mahnen, man müsse die Chance nutzen, in Koalitionsverhandlungen möglichst viel herauszuholen.
Die Genossen wollen eh abwarten, wie sich Merkel und Seehofer positionieren. Ein weiteres Treffen mit ihnen dürfte es vor dem SPD-Parteitag eher nicht geben. Schließlich sollen die Delegierten nicht das Gefühl haben, die Sache sei schon entschieden. Schulz stellt sich beim Parteitag zur Wiederwahl. Das dürfte klappen - aber auf das Ergebnis kommt es an. Und würde im Falle eines neuen schwarz-roten Bündnisses Schulz in eine Regierung unter Merkel einsteigen? Auch dazu hat er schon mal kategorisch Nein gesagt. Was aus einem solchen Nein werden kann, hat sich gezeigt. Alles offen also.
Bundespräsident: Steinmeier setzt bei den Gesprächen mit Merkel, Schulz und Seehofer auf nüchterne Arbeitsatmosphäre, nicht mal ein Abendessen war geplant. Seit dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen geht es ihm darum, Gespräche zwischen den Parteien wieder möglich zu machen - aktiv Verhandlungen führen will er nicht. Eine Neuwahl will er vermeiden, er sieht die Parteien in der Verantwortung, den Wählerauftrag vom 24. September umzusetzen.
Der Ex-Außenminister sorgt sich auch um das Bild Deutschlands in der Welt: Immer wieder ist er darauf angesprochen worden, zuletzt bei der britischen Königin am Dienstag. Bei einer Podiumsdiskussion mit Schriftstellern unter dem Motto „Die Freiheit des Denkens in unruhigen Zeiten“ lässt er wenige Stunden vor dem Treffen mit Merkel, Seehofer und Schulz durchblicken, wie stark der Druck auch auf ihm lastet in diesen Zeiten: „Ich könnte mir vorstellen, dass dieses der entspanntere Teil des Tages ist“, sagt er. (dpa)