Trend im Netz: Was steckt hinter der Ice Bucket Challenge?
Als der genervte Per Mertesacker in einem Interview während der Fußball-Weltmeisterschaft ankündigte, dass er sich erst mal drei Tage in die Eistonne legen werde, da schlotterte die Nation. In Eiswürfeln baden, um die Durchblutung anzuregen, grrrh, allein bei dem Gedanken bekamen nicht wenige kalte Füße. Wer braucht denn so was?
Die Diskussion verlagerte sich schnell auf die Frage, wie sich ein Nationalspieler in Interviews verhalten sollte. Die Nationalmannschaft gewann das WM-Finale, Eiswürfel wurden für Caipirinha zerbröselt, damit war das Thema durch. Bis dieser Sturm im Internet begann, den die „Ice Bucket Challenge“ ausgelöst hat.
Pubertäre Mutprobe
Die Spielregeln: Eine nominierte Person lässt sich filmen, wie sie einen Bottich Eiswürfelwasser über den Körper schüttet, stellt die Aufnahmen ins Netz und spendet zehn Dollar. Wer die Aufgabe nicht erfüllt, muss als Strafe 100 Dollar zahlen. Eisduschen und Geldspenden ist auch möglich. Zur Belohnung darf man drei Personen bestimmen, die den Auftrag als Nächstes innerhalb von 24 Stunden erfüllen müssen. Und die Personen dürfen dann ... – wie bei Kettenbriefen geht es weiter. Die Idee kommt von britischen Trinkspielen, die Anfang des Jahres im Netz populär waren. Dabei ging es darum, Gläser mit beachtlichen Mengen Alkohol auf ex zu leeren.
Klingt nach pubertärer Mutprobe, und ist es irgendwie auch. Und trotzdem gibt es in der westlichen Welt kaum einen Prominenten, der noch nicht mitgemacht hat. Unternehmer wie Bill Gates und Mark Zuckerberg gehören dazu, Politiker wie George W. Bush und Sigmar Gabriel (hat es zumindest angekündigt), Musiker wie Justin Timberlake, Lady Gaga und Helene Fischer oder Sportler wie Marco Reus und Dante – die Aufzählung ließe sich stundenlang fortführen. Nur Regierungschefs müssen vorsichtig sein, Barack Obama und Angela Merkel wurden auch nominiert, haben aber nicht mitgemacht.
Manchmal ist es, zugegeben, ganz lustig, ängstliche Stars zu beobachten, die nur ein Eimerchen mit ein paar Tropfen Eiswasser füllen. Manchmal wecken sie auch Schadenfreude, weil sie – wie die Schauspielerin Gwyneth Paltrow – nicht damit rechnen, dass Eiswasser wirklich kalt ist. Auch Charakterstudien sind möglich: Schauspieler Charlie Sheen wählte statt Wasser einen Topf mit 10.000 US-Dollar Bargeld, den er über seinem Kopf leerte. Manche Stars ziehen sich aus wie Verena Pooth oder wählen den größtmöglichen Bottich, den sie finden können, natürlich hat das der Fußballspieler Cristiano Ronaldo getan.
Massentauglich und ökologisch unbedenklich
Nach der kalten Dusche sehen die Leute aus wie begossene Pudel. Die Frisur ist hin, die Klamotten nass und das Geschrei groß. Vor der digitalen Eiszeit wurden Stars ja wie Götter verehrt, Wirtschaftsbosse waren unnahbar und Sportler schrieben höchstens ein paar Autogramme. Sie wurden verehrt, weil sie etwas konnten, weil sie Talent hatten. Das schützte sie davor, jeden Quatsch mitmachen zu müssen. Aber das ist vorbei. Inzwischen müssen sie sich täglich neu beweisen, sie müssen die Massen erreichen und überraschen, um nicht in Vergessenheit zu geraten.
Der Sommertrend ist politisch korrekt, massentauglich und ökologisch unbedenklich. Das sind wichtige Kriterien. Außerdem bringt er Aufmerksamkeit, Klicks im Netz, Sympathien, und er erreicht alle Generationen. Gute Gründe, um dabei zu sein.
Kritiker werfen den Stars „Hashtag Activism“ vor. Mit dem Begriff ist die Vorstellung gemeint, durch Liken, Teilen oder Retweeten, also das, was man bei Facebook und Twitter macht, anderen helfen zu können, ohne sich wirklich zu engagieren. „Da laufen eine Menge Sachen falsch mit ‚Ice Bucket Challenge‘“, schrieb Arielle Pardes, Autorin des Magazins Vice. Sie bemängelte, dass der Aspekt des sozialen Engagements zur kurz kommt. „Das Entscheidende ist, dass dort Narzissmus als Altruismus präsentiert wird.“
Bei der Aktion geht es auch um Hilfe, es geht um den Kampf gegen Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), einer zu fortschreitender Muskellähmung führenden Krankheit. Der Wissenschaftler Stephen Hawking leidet daran, der Amerikaner Peter Fraser auch. Früher war Fraser College-Baseballspieler, jetzt sitzt er im Rollstuhl. Zufällig erfuhr er von dem Eiswürfel-Spiel und wollte, dass das Geld zum Kampf gegen seine Krankheit gesammelt wird, deshalb nominierte er sich selbst. Weil er seinen Körper nicht belasten sollte, verzichtete er auf die Eiswürfel und bewegte seinen Kopf nur zum Rap-Song „Ice Ice Baby“.
Das Video rührte viele Menschen. So ging es los. Später sagte er über seine Krankheit: „Die Geschichte ist bei allen gleich. Du hast sie, du hast sie für lange Zeit. Und immer gewinnt sie. Um das Ende umzuschreiben, brauchen wir Geld.“ Die Kampagne hat bisher umgerechnet 23,8 Millionen Euro Spenden für die Erforschung der Krankheit eingebracht – im Vorjahreszeitraum waren es 1,43 Millionen Euro. Auch die ALS-Ambulanz an der Berliner Charité profitierte schon davon.
Seit Freitag gibt es ein Beispiel dafür, wie ein Star die Prüfung unaufgeregt meistern kann. Conchita Wurst, die ESC-Siegerin aus Österreich, sitzt auf einem Sofa, bittet freundlich um Spenden und löffelt dabei ein Eis. So bleibt auch der Bart trocken.