Erdbeben-Helfer im Interview: „Die Stadt Antakya ist dem Erdboden gleichgemacht“

Der humanitäre Helfer Serkan Eren flog noch am Tag der beiden Erdbeben in die Türkei. Er schildert, was er erlebt und wie verzweifelt die Überlebenden sind.

Antakya: Völlig zerstörtes Gebäude in der türkischen Erdbeben-Region.
Antakya: Völlig zerstörtes Gebäude in der türkischen Erdbeben-Region. Ibrahim Oner/imago

Das Grauen in der Türkei und Syrien zeigt sich Stunde um Stunde in neuen Dimensionen. Während die Zahl der Toten nun fünfstellig geworden ist, erreichen internationale Helfer die vom Erdbeben betroffenen Regionen in der Türkei. Serkan Eren von der Hilfsorganisation Stelp mit Sitz in Stuttgart machte sich bereits wenige Stunden nach den beiden Erdbeben am 6. Februar von Deutschland auf in den Süden der Türkei. Er berichtet von umfassenden Zerstörungen, einer schwierigen Arbeit und dramatischen Erlebnissen.

Herr Eren, Sie sind am Tag der Katastrophe in die Region aufgebrochen. Was haben Sie dort gesehen, was haben Sie erlebt?

Ich pendele zwischen Adana und der zerstörten Region, um dorthin Hilfsgüter zu bringen. Adana ist eine Millionenstadt im Süden der Türkei. Es ist der letzte Ort, an dem die Lieferketten noch funktionieren. Eine halbwegs intakte Versorgung gibt es erst wieder im zentralanatolischen Kayseri, einige Hundert Kilometer weiter nördlich. Die Verwüstungen in der Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien sind unbeschreiblich. Die Stadt Antakya ist dem Erdboden gleichgemacht. Die Häuser, die es da noch gibt, stehen schief. Hunderttausende irren durch den Schutt, stehen unter Schock. Es liegen Leichen in den Straßen. Es ist bitterkalt. Und die Menschen graben mit bloßen Händen nach ihren Angehörigen. Ich habe gestern ein 13-jähriges Mädchen aus dem Schutt geholt. Sie war leider schon tot.

Infobox image
privat
Helfer bei Katastrophen und Krieg
Serkan Eren begann 2015, mit Freunden Geflüchtete auf der Balkanroute mit Hilfsgütern zu versorgen. Der 38-Jährige gründete 2016 die Hilfsorganisation Stelp. Sie arbeitet inzwischen weltweit in Krisen- und Kriegsregionen wie der Ukraine, Afghanistan oder dem Jemen. Eren ist bei Noteinsätzen bei humanitären Krisen auch selbst vor Ort.

Der Onkel bat um Hilfe, doch die Nichte ist schon tot

Das ist ein furchtbares Erlebnis. Wie ist es dazu gekommen?

Man hört die Schreie unter dem Schutt. Dann packt man mit an. In der Situation war es ein Mann, der mich gebeten hat, ihm zu helfen, seine Nichte aus den Trümmern zu retten. Wir sind auf den Schutt geklettert und der Kopf des Mädchens hat zwischen den Trümmern herausgeragt. Ich habe sofort erkannt, dass das Mädchen tot ist. Ihr Onkel war im Schock. Er wollte das nicht realisieren.

Man hört die Schreie unter dem Schutt. Dann packt man mit an.

Serkan Eren, Stelp

Sie schildern, dass Menschen selbst nach ihren Angehörigen graben. Wo bleiben der türkische Katastrophenschutz und die internationalen Bergungsteams?

Die betroffene Region ist einfach riesig. Selbst wenn es Mängel geben sollte, glaube ich, dass kein Land der Welt jetzt schaffen würde, in so vielen Orten gleichzeitig nach Menschen zu suchen. Die internationalen Helfer sind zunächst im Schneesturm steckengeblieben. Es gab keine Flüge mehr in die Region. Ich selbst hatte Glück. Ich habe einen Helfer auf Instagram gefunden, der mich mitgenommen hat in den Süden. Wir sind zwölf Stunden gefahren und haben gesehen, wie die schweren Geräte auf der Autobahn im Schneesturm nicht vorwärtskommen. Wenigstens hat sich das Wetter beruhigt und die Teams kommen voran.

Der Schneesturm hält die Helfer auf

Das klingt, als wäre es unmöglich, allen Menschen zu helfen, die jetzt noch verschüttet sind.

Es ist tatsächlich alles zusammengekommen. Die Beben waren ungewöhnlich stark und haben ein riesiges Gebiet getroffen. Die Menschen waren nach Mitternacht alle im Bett und in ihren Häusern, die dann über ihnen eingestürzt sind. Und dann gab es noch den Schneesturm, der die Helfer abgehalten hat. Es ist außerdem immer noch bitterkalt.

Es ist außerdem immer noch bitterkalt.

Serkan Eren, Stelp

Wie schützen sich die Menschen und auch die Helfer vor der Kälte?

Die Menschen in Hatay sind auf der Straße. Ich habe keine Gebäude gesehen, in denen sie jetzt Schutz suchen könnten. Viele Autos sind auch unter Geröll begraben. Für die Helfer ist die Kälte gar nicht so ein großes Problem. Wir sind ständig in Bewegung.

Niemand sollte auf eigene Faust ins Katastrophengebiet reisen

Die Spendenbereitschaft in Deutschland ist groß. Wie können die Menschen in Deutschland aus Ihrer Sicht nun am ehesten sinnvoll helfen?

Ich rate jedem davon ab, in das Flugzeug zu steigen und jetzt hierherzukommen. Sosehr ich auch verstehen kann, wenn jetzt jemand Angehörigen helfen will, das behindert die professionellen Helfer. Schon allein die Straßen sollten jetzt für die Bergungstrupps freigehalten werden. Ich sehe auch Sachspenden kritisch. Die Transporter brauchen zu lange in die Region und müssen durch den türkischen Zoll. Es ist sinnvoller, vor Ort in der Türkei Hilfsgüter zu kaufen und zu verteilen. Ich rate also zu Geldspenden an Organisationen, die bereits in der Region sind, um zu helfen.

Ich sehe auch Sachspenden kritisch.

Serkan Eren, Stelp

Was hören Sie über die Lage in Syrien?

Es ist dort genauso schlimm, wenn nicht schlimmer. Aufgrund des Bürgerkriegs ist es noch viel schwieriger, Hilfe zu leisten. Es ist nicht einmal möglich, Geld nach Syrien zu schicken aufgrund der Sanktionen gegen das Regime in Damaskus. Die Menschen in Syrien sind noch viel stärker auf sich selbst gestellt, sie haben noch weniger Chancen, jetzt Leben zu retten.