Erdbebenhilfe: Wenn die schnelle Hilfe in Bürokratie erstickt

Vom Sterben und Überleben: Der Berliner Rentner Mehmet Şeker hat beim Erdbeben in der Türkei sieben Angehörige verloren. Den Überlebenden helfen? Schwierig!

Mehmet Şeker am Kottbusser Tor.
Mehmet Şeker am Kottbusser Tor.Benjamin Pritzkuleit

Mehmet Şeker saß in Berlin am Computer, als in der Türkei die Erde bebte. Es war schon spät in der Nacht. Der Fernseher lief nebenbei – türkisches Fernsehen. Es ging um die Wahlen. Mehmet Şeker hörte nicht richtig zu. Bis plötzlich von einem Erdbeben die Rede war. „Da war ich wieder richtig wach“, sagt er. In dieser Nacht hat er dann überhaupt nicht mehr geschlafen. Und in den nächsten Nächten auch nicht.

Mehmet Şeker kommt aus Elbistan im Südosten der Türkei, seine Frau ist aus Maraş. Genau das ist die Region, in der es Anfang Februar am meisten gebebt hat. Sieben Angehörige hat Mehmet Şeker in dieser Nacht verloren: eine Nichte mit drei kleinen Kindern, die Frau und die Tochter seines Schwagers, eine weitere Schwägerin. Sie sind alle tot. Ums Leben gekommen sind außerdem Hunderte Freunde, Bekannte, ehemalige Nachbarn, entfernte Verwandte. „Es ist furchtbar“, sagt er.

So richtig begriffen hat er das Grauenhafte erst nach Tagen. Als er endlich wieder Kontakt zu Überlebenden bekam. Als die Nachrichten bei ihm einschlugen, eine nach der anderen.

Mehmet Şeker sitzt in Neukölln an einem Tisch in den Räumen eines Pflegedienstes, als er von diesem Beben erzählt, das nicht nur den Boden erschüttert hat, sondern genauso das Leben Tausender. Auch seins. Eine Bekannte hat ihm einen Raum für ein ruhiges Gespräch zur Verfügung gestellt.

Wer Şeker länger zuhört, erlebt einen Mann, der eigentlich fröhlich und unkompliziert von seinem Leben in Berlin erzählt. Daneben, wie aus einer anderen Welt, stehen die grauenhaften Schilderungen von kurdischen Dörfern, die auch sechs Wochen nach dem Beben noch keinerlei staatliche Hilfe erreicht hat.

Şeker erzählt tonlos, ohne Dramatik in der Stimme. Die Worte sprechen für sich. Er spricht von Verschütteten, deren Stimmen am ersten Tag noch zu hören waren. Aber es gab keinen Strom. Nachts mussten die Retter aufhören zu graben. „Als man die Menschen am nächsten Tag freilegte, waren sie erfroren“, sagt Şeker.

Kontakt zu Verschütteten, bis der Akku erschöpft war

Er berichtet davon, wie Helfer per Mobiltelefon so lange Kontakt zu Verschütteten hielten, bis der Akku erschöpft war. Er erzählt vom neuen Leben seiner Freunde und Bekannten im Katastrophengebiet. Sie sind seine Informationsquellen. Einer, ein sehr guter Freund, hat ihm von Wölfen in den Dörfern erzählt und von zerfetzten Körpern der Toten. „Wir können froh sein, dass es bei unseren Toten anders war“, sagt Şeker.

Mehmet Şeker übertreibt nicht. Es ist auch so schon schrecklich genug. Das Grauen ist in seinen Schilderungen spürbar. Jede Sekunde. Auch für ihn. „Tagsüber geht es, aber abends zu Hause falle ich in ein Loch“, sagt Şeker. Er holt sein Mobiltelefon aus der Tasche und zeigt die Fotos von seiner Nichte und ihren süßen Töchtern – kleine Mädchen, die auf diesen Bildern strahlend lächeln. Das ist so ein Moment, an dem Şeker dann doch mit den Tränen kämpft.

72 Jahre ist Mehmet Şeker alt. Er lebt mit seiner Frau seit den 1980er-Jahren in Berlin. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat er bereits seit 1989. Şeker hat viele Jahre an einer Hauptschule in Zehlendorf gearbeitet und Willkommensklassen für ausländische Kinder betreut, auch schon, als die Klassen noch nicht so hießen. Mittlerweile ist er Rentner.

Das hindert ihn nicht daran, sich weiter zu engagieren. Mehmet Şeker hat den Berliner Verein „Hilfsbund für Kinder in Not“ mit gegründet, in dem sich Deutsche, Kurden, Türken, Armenier und andere engagieren. Und auch den kurdischen Elternverein Yekmal, der sich um die Belange kurdischsprachiger Eltern kümmert.

Trümmer eingestürzter Gebäude in Hatay
Trümmer eingestürzter Gebäude in HatayHussein Malla/AP

Şeker könnte in Berlin jemanden aufnehmen, der kein Haus mehr hat. Die beiden Brüder seiner Frau zum Beispiel, die jeweils ihre Frauen und teilweise ihre Kinder verloren haben. Seine beiden Schwager und die mutterlosen Kinder des einen. Die Kinder der toten Nichte, die überlebt haben.

Wenn es nur nicht so kompliziert wäre.

An einem Dienstagabend, ein paar Tage vor dem Treffen mit Mehmet Şeker, versammeln sich in einem Raum im Erdgeschoss der Landeszentrale für Politische Bildung etwa 50 Frauen und Männer. Sie alle haben Verwandte in der Türkei, sie arbeiten zudem für türkische Vereine in Berlin. So wie Mehmet Şeker. Auch er ist gekommen, denn es soll an diesem Abend um das Erdbeben gehen und zwar speziell um die Frage, die auch Mehmet Şeker umtreibt. Wie kann man Verwandte, die obdachlos oder elternlos geworden sind, unkompliziert aus dem Erdbebengebiet nach Deutschland holen, wie es die Behörden versprochen haben? Stimmen schwirren durcheinander. Man kennt sich.

Eingeladen hat an diesem Abend der Türkische Bund. „Setzt ihr euch bitte, damit wir anfangen können“, ruft die TBB-Sprecherin Ayse Demir ins Mikrofon. „Trauer und Verzweiflung sind groß. Wir versuchen zu helfen. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht daran denken, unsere Angehörigen nach Deutschland zu holen, wenn auch nur für eine vorübergehende Zeit“, sagt sie.

Schnelle Hilfe hatte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) direkt nach dem Erdbeben versprochen. Das ist sechs Wochen her. Menschen in der Türkei sollen seitdem über ein unbürokratisches Visaverfahren die Möglichkeit erhalten, zeitweise bei Angehörigen in Deutschland unterzukommen.

Allerdings weiß jeder, der sich schon mal mit Einwanderungsrecht beschäftigt hat, dass Bürokratie quasi der Markenkern des Einwanderungsrechts ist. Das Recht ist nicht darauf ausgerichtet, Menschen eine unkomplizierte Einreise zu ermöglichen. Im Gegenteil. Gesetze und Verordnungen sollen in Hunderten kleinsten Verästelungen dafür sorgen, dass eben nicht schnell sehr viele kommen.

Schlupfloch für Erdbebenopfer

In den vergangenen Wochen haben nun einige Experten im Landesamt für Einwanderung daran gearbeitet, die Dinge speziell für Erdbebenopfer zu vereinfachen. Sie haben eine Art Schlupfloch gebastelt. Es bleibt allerdings kompliziert genug. Und wie die Lücke zu nutzen ist, hat sich noch nicht wirklich bis zu den Betroffenen herumgesprochen. Deshalb tritt an diesem Abend Engelhard Mazanke ans Mikrofon. Der Behördenleiter will erklären, wie es trotzdem gehen kann.

Die gute Nachricht ist: Es geht. Mit kurzfristigen Visa für türkische Staatsangehörige mit engen Verwandten in Berlin. Mazanke holt erst mal tief Luft. Dann erklärt er, dass er den Anwesenden jetzt leider in einer Art Schnellkurs die nötige Verwaltungskunde verschaffen muss. Mazanke hofft auf einen Schneeballeffekt. Seine Zuhörer an diesem Abend sollen das Gehörte möglichst korrekt weitererzählen. „Es kommen zwei verschiedene Arten von Visaverfahren in Betracht. Wenn Sie das falsche Visum beantragen – das wäre schlecht“, sagt Mazanke.

Mazanke möchte erreichen, dass alles von Anfang in den richtigen Bahnen läuft. Damit die Menschen mit verwandtschaftlichen Beziehungen zu Erdbebenopfern, die sie nach Berlin holen wollen, im Kampf mit der Bürokratie nicht auf zu viele Hindernisse stoßen. Damit die schnelle Hilfe, die sich die Behörden in Berlin und im Bund ausgedacht haben, überhaupt funktionieren kann.

Zeltlager für Erdbebenopfer in Kahramanmaraş (Maraş)
Zeltlager für Erdbebenopfer in Kahramanmaraş (Maraş)Boris Roessler/dpa

Darüber hinaus geht es dem Behördenleiter aber auch darum, dass ihm die Angehörigen der Erdbebenopfer nicht die Arbeitskanäle verstopfen. Sein Amt ist jetzt schon, auch ohne Erdbebenhilfe, vollkommen überlastet. Es gibt einen Antragsstau von fünf bis sechs Monaten. Mazanke muss also Arbeit, die nicht sinnvoll ist, von seinen Mitarbeitern fernhalten. Andernfalls kollabiert seine Behörde. Jeder Antrag muss möglichst ein Erfolg werden. Ansinnen, die keine Aussicht haben, sollten erst gar nicht an die Behörde herangetragen werden. So sieht es Mazanke.

Dafür muss er den Zuhörenden etwas zumuten. Sie sollen verstehen, dass die erleichterte Einreise, die für die Erdbebenhilfe erfunden wurde, etwas anderes ist als das normale Visumverfahren für dauerhafte Aufenthalte zum Beispiel für Studierende und Auszubildende. Erleichterungen gibt es wegen des Erdbebens ja auch bei der normalen Familienzusammenführung bei Ehepartnern. Das müsse man trennen, sagt Mazanke.

Es ist wichtig, sich vor dem Stellen des Antrags zu entscheiden. Das Notfallvisum gilt nur für 90 Tage, ist nicht verlängerbar und man kann den Einreisegrund nicht nachträglich verändern. „90 Tage sind nicht viel“, sagt Mazanke warnend.

Es ist die Frage, ob dieser fundamentale Unterschied wirklich ankommt an diesem Abend und über die Multiplikatoren dann auch in den Kiezen. Denn „erleichterte Einreise“ klingt ja erst einmal verführerisch. Die Bedingungen sind allerdings eng gefasst und die Verwaltungssprache ist haarsträubend weit weg von jeder Alltagskommunikation.

Mazanke erspart den Anwesenden an diesem Abend nichts. Wer Erleichterung will, muss sich vorher an die deutsche Bürokratie gewöhnen. Mazanke legt schon mal los mit Begriffen wie Fiktionsbescheinigung und Fortbestehensbescheinigung.

Mazanke ist es gewohnt, vor großen, auch fachfremden Gruppen solche Vorträge zu halten. Hin und wieder entschuldigt er sich für das ein oder andere bürokratische Unwort, aber seine Mission verfolgt er unbeirrt.

Die Mienen, in die er blickt, verändern sich allerdings. Sie verlieren den anfänglichen Anschein von Zuversicht. Wechseln hin zu dem konzentriertem Bemühen, nicht den Faden zu verlieren. Aber wenn es hier nicht klappt mit dem Verständnis, wenn der Chef die Dinge selbst erklärt, wie dann? Und vielleicht haben die Zuhörer auch gar kein Verständnisproblem, sondern Frust?

Reste eines Wohnviertels in Kahramanmaraş (Maraş)
Reste eines Wohnviertels in Kahramanmaraş (Maraş)Ahmed Deeb/dpa

Der Punkt ist: Die erleichterte Einreise ist an zahlreiche Bedingungen geknüpft. Sie gilt zunächst einmal nur für türkische Staatsangehörige direkt aus dem Erdbebengebiet auf türkischer Seite. Also nicht für die 1,7 Millionen Syrer und die vielen Staatenlosen, die ebenfalls in der Südost-Türkei leben, durch das Erdbeben vielleicht wohnungslos geworden sind, Kinder, Eltern, Ehepartner verloren haben und zu Angehörigen nach Berlin flüchten könnten. Sie gilt auch nur für Verwandte ersten und zweiten Grades – das sind Ehepartner, Eltern, Kinder, Großeltern, Enkelkinder, Geschwister. Aber nicht für deren Kinder. Das ist der dritte Grad.

Verpflichtungserklärung bei der Ausländerbehörde

Für alle, die eingeladen werden sollen, muss der oder die in Deutschland lebende Verwandte noch vor dem Visumantrag eine Verpflichtungserklärung bei der zuständigen Ausländerbehörde seines Wohnorts abgeben. Die einladende Person verpflichtet sich damit ab der Einreise zur Übernahme der Kosten für den Lebensunterhalt einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit. Diese Erklärung ist wiederum ans Einkommen gebunden und begrenzt die Zahl der Menschen, die man aufnehmen kann. Es gibt noch einen ganzen Katalog weiterer Bedingungen.

Wenn alle nötigen Dokumente da sind, dazu zählen auch Einladungsschreiben und Pässe, verspricht Mazanke eine Prüfung innerhalb von fünf Tagen. Er bietet aber auch kurzfristige Beratung an. „Ich kann mir vorstellen, wie sich jemand fühlt, der schnell helfen will und auf einen solchen Sermon von Vorschriften trifft, ich kann aber nur raten, sich an diesen Weg zu halten“, sagt Mazanke.

Einige Tage später in Neukölln zieht Mehmet Şeker für sich ein Fazit. „Das kann ich nicht. Meine Rente reicht gerade für meine Frau und mich. Ich habe am ersten Tag als Rentner mein Auto verkauft, damit es reicht. Ich kann nicht 40.000 Euro auf ein Sperrkonto einzahlen, damit meine Schwester und die Schwager kommen können“, sagt er. Und was soll dann aus deren Kindern werden? Die darf Şeker ohnehin nicht einladen, sie sind Verwandte dritten Grades.

Und er sieht auch noch viel mehr Fallstricke. „Was, wenn die drei Monate um sind und die Verwandten gehen nicht zurück. Ich kann sie doch nicht anzeigen – und selbst wenn, rettet mich das nicht“, sagt Şeker. Der Staat werde sich auf jeden Fall an denjenigen halten, der die Verpflichtungserklärung abgegeben hat, und verlangen, dass er alle anfallenden Kosten übernimmt. Fünf Jahre lang.

Şeker hat die Worte des Behördenchefs als Warnung aufgefasst. „Diese hohen Beträge, das kann so gut wie keiner. Die meisten Berliner Verwandten der Erdbebenopfer sind Rentner, so wie ich. Wie sollen sie das bezahlen“, sagt er. Das sei keine Erleichterung für die Menschen.

Sinnvoll findet Mehmet Şeker es ohnehin nicht, Menschen hierher zu holen, wenn sie gleich wieder gehen müssen. „Hilfreich wäre Hilfe vor Ort“, sagt er. Die Zerstörung sei so immens. Die Menschen hätten keinen Wohnort, seien traumatisiert.

Mehmet Şeker ist jetzt ständig unterwegs. Er telefoniert und organisiert. Es ist, als habe er sich vorgenommen, im Alleingang alle Probleme zu lösen. Mit dem Berliner Hilfsbund hat er jetzt Geld für Zelte gesammelt. Das Geld geht in die Türkei, eine Kulturstiftung vor Ort beschafft die Zelte. Şeker scheint ständig auf Trab zu sein. „Ich brauche das“, sagt er. Und er hofft natürlich auch, dass die Hilfe etwas bewirkt. Ein kleines bisschen jedenfalls.