Bandera-Enkel verlangt Korrektur von Berliner Zeitung – doch die Beweislage ist klar

Während des Vernichtungskriegs im Osten hatten die deutschen Mörder engagierte Unterstützer: die Organisation ukrainischer Nationalisten.

Misshandelte Jüdinnen in Lemberg: Nach der Eroberung der Stadt durch die Wehrmacht am 30. Juni 1941 kam es zu massiven Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Dabei tat sich vor allem die ukrainische Miliz <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/OUN">OUN</a>-B hervor.
Misshandelte Jüdinnen in Lemberg: Nach der Eroberung der Stadt durch die Wehrmacht am 30. Juni 1941 kam es zu massiven Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Dabei tat sich vor allem die ukrainische Miliz OUN-B hervor.picture-alliance / akg-images

Berlin-Stepan Bandera, der vom ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk hochverehrte Faschist und Nazi-Kollaborateur, hat einen Enkel in Kanada, Steven Bandera. Als in der Berliner Zeitung Anfang Juli 2022 ein Artikel über den Aufenthalt Stepan Banderas als Ehrenhäftling im KZ Sachsenhausen erschienen war, meldete sich dieser und verlangte, „die Verbreitung von Lügen über meinen Großvater einzustellen und Fehler in dem Artikel zu korrigieren“.

Das gab Anlass, sich dem in der Ukraine zum Nationalhelden erhobenen Bandera noch einmal zuzuwenden. Im Folgenden sollen historische Quellen über das Wirken der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) sprechen – insbesondere aus der Zeit, in der Bandera den radikalnationalistischen Flügel der OUN-B (B wie Bandera) direkt leitete. Es geht vor allem um Sommer und Herbst 1941. Der Enkel stört sich im Wesentlichen an zwei Punkten: der Zahl der durch die OUN-B ermordeten Menschen sowie deren Beteiligung an den Massakern von Babyn Jar am 29./30. September 1941, als deutsche Einsatztruppen in der Nähe von Kiew mehr als 33.000 Juden erschossen.

Mit vollem Recht erinnert der Enkel Banderas daran, dass 1,5 Millionen Juden auf dem Gebiet der seit 1991 unabhängigen Ukraine ermordet waren, als die Deutschen (von der Roten Armee) vertrieben wurden. Es geht auch nicht um die Relativierung der deutschen Hauptverantwortung und Tatherrschaft. Die stehen fest.

Warum man sich jetzt, da sich die Ukraine eines russischen Überfalls erwehren muss und Russland – wieder einmal – deren staatliche Souveränität infrage stellt, überhaupt mit der Verquickung ukrainischer Nationalisten und deutscher Massenmörder beschäftigt, ist in einem Wunsch begründet: zu verstehen, was die Verehrung Stepan Banderas in der heutigen Ukraine über ein künftiges EU-Mitglied aussagt. Es tragen ja nicht nur unzählige Straßen in der Westukraine seinen Namen, es stehen nicht nur Dutzende Bandera-Statuen in ukrainischen Städten – im April 2015 erklärte das ukrainische Parlament, die Rada, die OUN-Mitglieder offiziell zu Nationalhelden.

Andererseits: Die heutige ukrainische Regierung ist weder faschistisch noch hat sie irgendwie mit NS-Ideologie zu tun. Präsident Wolodymyr Selenskyj verlor Mitglieder seiner jüdischen Familie im Holocaust.

Enthüllung einer Statue des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera 2007 in Lwiw (ehemals Lemberg) – die Skulptur ähnelt im Habitus den serienweise produzierten Leninfiguren.
Enthüllung einer Statue des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera 2007 in Lwiw (ehemals Lemberg) – die Skulptur ähnelt im Habitus den serienweise produzierten Leninfiguren.Imago/Itar Tass

Zeitzeugen sollen helfen, die in Rede stehende Zeit besser zu verstehen. Die Komplexität der Verhältnisse während des deutschen Überfalls kann dabei nicht ansatzweise erfasst werden. Konsultierte deutschsprachige Historiker, Osteuropaspezialisten, ringen um die Einschätzung der Verhältnisse. Wir zitieren aus ihren Forschungsergebnissen.

Leicht zu verstehen sind die „Zehn Gebote des ukrainischen Nationalisten“, das 1929 in Wien bei der Gründung der OUN aufgestellte Kernprogramm einer rassistischen, faschistischen Bewegung, deren Ziel ein möglichst rassenreiner ukrainischer Staat war. Drei der Gebote lauten: „Du wirst den ukrainischen Staat erkämpfen oder im Kampf für ihn sterben“; „Du sollst nicht zögern, die allergefährlichste Tat zu begehen, wenn die Sache dies verlangt“; „Begegne den Feinden deiner Nation mit Hass und rücksichtslosem Kampf“. 1940 spaltete sich die OUN – den radikalen Flügel führte Bandera an.

Wie das praktisch wirkte, beschreibt Leon Weliczker Wells, der als 16-jähriger polnischer Jude den deutschen Einmarsch erlebte und 1943 im berüchtigten Sonderkommando 1005 Leichen erschossener NS-Opfer ausgraben und verbrennen musste. Er konnte fliehen und sagte als Zeuge im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher aus. Später, in den USA, veröffentlichte er seine Erinnerungen, in Deutschland erschienen sie unter dem Titel „Ein Sohn Hiobs“ (Hanser, 1963).

Darin berichtet Wells: Die Ukrainer hätten sich in den Tagen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion zunächst den Deutschen angeschlossen, und „nahmen an den Judenmassakern sehr aktiv teil“.

Als die Deutschen ihnen die Gründung eines eigenen unabhängigen Staates verweigerten, bildete sich unter der Führung eines gewissen Bandera eine ukrainische Partisanengruppe, die bald als die Banderowcy bekannt wurde. Ihr Kampf richtete sich laut Wells nicht etwa gegen die Deutschen, sondern hatte mehr das Ziel, später einer allgemeinen Friedenskonferenz beweisen zu können, dass die Ukrainer hier die absolute Majorität hatten. „Um das zu erreichen, mussten sie zunächst die Polen ausrotten oder verdrängen.“ Zu diesem Zweck hätten sie beispielsweise einen prominenten Polen gefangen, ihn ermordet und seine zerstückelte Leiche öffentlich zur Schau gestellt. Seine Landsleute sollten es sehen und die Gegend verlassen. Wells: „Vor den Banderowcy fürchteten sich die Juden noch mehr als vor den SS-Leuten, denn die ortsansässigen Ukrainer erkannten einen Juden viel leichter als die Deutschen.“

Als Wells im Januar 1960 erfuhr, Bandera sei ein „Held“ gewesen, „während er in Wirklichkeit ein Mörder war“, reagierte er schockiert. Er schrieb: „Es passte wirklich zu ihm, dass die Stadt, in der Hitler seine Karriere begann, ihm Asyl gewährte.“ Er meinte München, wo Bandera nach dem Krieg im Kreise Gleichgesinnter lebte, bis ihn ein sowjetischer Geheimdienstler ermordete – in gleicher Manier, wie Putin bis heute Missliebige „beseitigt“.

Ukrainische Briefmarke zum 100. Geburtstag Banderas im Jahr 2009
Ukrainische Briefmarke zum 100. Geburtstag Banderas im Jahr 2009Wikipedia/Vizu

Die deutsche Abwehr, der Nachrichtendienst des Dritten Reichs, begann im Februar 1941 mit konkreten Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion. Man nahm Kontakt zur OUN auf, bevorzugte dabei den Bandera-Flügel als „dynamischste und handlungsfähigste ukrainische Opposition, die eine starke Basis“ besaß, wie der Historiker Kai Struve feststellt. Er hat das Grundlagenwerk „Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine“ (München 2015) verfasst. Der Auftrag an die OUN-B: Diversion, Spionage und Sabotage. Im Ausbildungslager Quenzsee, nahe der Stadt Brandenburg, erhielten die Kämpfer Spezialschulungen. Später lieferte die OUN-Zentrale in Krakau Informationen an die Abwehr und führte direkte Aufträge aus. Sie erhielt 2,5 Millionen Reichsmark.

Auf ihrem Zweiten Großen Kongress in Krakau im April 1941, kurz vor Beginn der Operation „Barbarossa“, hieß es zum Thema Juden: „Die OUN bekämpft die Juden als Stütze des moskowitisch-bolschewistischen Regimes.“ Der Kongress bestätigte Stepan Bandera als „providnyk“ (Führer), beschloss den unerbittlichen Kampf für den ukrainischen Staat und erteilte einen „Säuberungsauftrag“ an die militärischen OUN-B-Einheiten: „In der Zeit des Chaos und Durcheinanders kann man sich die Liquidierung unerwünschter polnischer, moskowitischer und jüdischer Aktivisten erlauben.“ Juden sollten „beim kleinsten Verschulden“ liquidiert werden – und: „Die Assimilierung der Juden ist ausgeschlossen.“

Die Losungen der mörderischen Säuberungspolitik der OUN-Bandera lauteten: „Ukraine den Ukrainern“ und „Tod der moskowitisch-jüdischen Kommune“. Judenhass gehörte zu ihren konstituierenden Elementen, da brauchte man keine deutsche Nachhilfe. Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und Organisator des Holocaust, ging aus guten Gründen davon aus, dass die „Selbstreinigung“ in den ukrainischen Gebieten die Form von Judenpogromen annehmen würde.

Im Band 7 der 16-bändigen Quellenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (München 2011, demnächst auch auf Englisch) kommt der polnische Augenzeuge Stanislaw Rozynsky zu Wort. Er lebte in Lemberg und schrieb am 28. Juni 1941, eine Woche nach Kriegsbeginn, in sein Tagebuch, es herrsche eine aufgeheizte Stimmung; die Deutschen sollten endlich kommen, „sonst werden die Ukrainer in der Nacht unvermeidlich ein Pogrom anrichten“. In seiner Hoffnung auf „bessere Deutsche“ sollte er sich täuschen. Am 7. Juli schrieb er: „Die Deutschen überlassen der vorerst eilig organisierten, unfähigen, primitiven ukrainischen Miliz die Initiative.“ „Diese Elemente“ würden in die jüdischen Häuser geschickt und trieben „düstere Kolonnen“ von Jüdinnen und Juden durch die Straßen.

Auf den deutschen Einmarsch reagierte Stalins Sowjetmacht umgehend mit Massenhinrichtungen von Zehntausenden Häftlingen, vor allem politischen. Zugleich schlugen die OUN-Milizen gegen die verhassten Bolschewiken los. Was in der von der OUN-B besetzten Kleinstadt Dobromyl geschah, als auch die deutschen Sonderkommandos eintrafen, klärte 1969 das Schwurgericht Tübingen auf: Als Rache für die sowjetischen Häftlingsmorde wurden Hunderte Juden mithilfe der ukrainischen Milizionäre ausfindig gemacht, zusammengetrieben und erschossen. SS-Leute richteten 90 Männer, darunter 80 Juden, hin. „Zur Bewachung am Erschießungsplatz waren außerdem wieder einheimische Milizionäre zugegen“, heißt es in den Akten.

Die ukrainische Bev��lkerung steckte zudem die Synagoge in Brand, kaum dass die Sowjets Dobromyl geräumt hatten. Deutsche warfen Juden lebend in die Flammen. Schikane und Ermordung von Juden setzten sich fort. Ähnliche Mordtaten ereigneten sich im ukrainischen Sokal. Von dort berichtet die jüdische Lehrerin Maria Ostermann, wie ehemalige ukrainische Schüler nun als Milizionäre die Juden „abholten“. Auch für die nächstfolgende Exekution trieben ukrainische Milizionäre mehr als 300 Juden zusammen. „Willig und engagiert“ dienten sie den Sonderkommandos, resümiert Kai Struve.

Ebenso im wolhynischen Luzk, wo ein Einsatzgruppen-Sonderkommando unter Führung des SS-Offiziers Paul Blobel als „Vergeltung“ 1160 Juden erschoss. Ukrainische Miliz unter Führung der OUN-B trieb die Menschen zusammen, wobei es zu pogromartigen Exzessen mit Toten kam. Blobel sollte später das Massaker von Babyn Jar leiten, zusammen mit dem SS-Offizier Friedrich Jeckeln, der schon in Dobromyl die Erschießungen organisiert hatte.

Die Rollenverteilung sah überall ähnlich aus: Die ukrainischen Milizionäre trieben die Leute zusammen und dienten als Wachposten. Die Deutschen mordeten. In der Einleitung zur schon zitierten Quellenedition werden die von ukrainischer Seite verübten Pogrome in den besetzten Gebieten und die deutsche Haupttäterschaft unzweideutig ins Verhältnis gesetzt: „Von Anfang an blieben die Opferzahlen der Pogrome weit hinter jenen der parallellaufenden deutschen Mordaktionen zurück.“

Grab auf dem <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Waldfriedhof_(M%C3%BCnchen)">Waldfriedhof in München</a> im April 2022
Grab auf dem Waldfriedhof in München im April 2022Wikipedia/CC BY-SA 4.0

Die OUN-B verfolgte eigene Pläne, ihr Verhältnis zu den Deutschen war zwiespältig – kooperativ in der Hoffnung, die Deutschen würden einen Staat Ukraine (nach dem Vorbild des deutschen NS-Staates) unterstützten. Doch das taten sie nicht.

Am 65. Verhandlungstag der Nürnberger Prozesse, am 11. Februar 1946, trug einer der sowjetischen Staatsanwälte, Generalmajor N.D. Zorya, vor, wie die deutsche Abwehr während der Vorbereitung des Überfalls die Zusammenarbeit mit osteuropäischen Verbündeten organisierte. Er zitierte aus dem Verhör von Heeres-Oberst Erwin Stolze. Jener habe mit den im Dienst der deutschen Abwehr stehenden ukrainischen Nationalisten Fühlung und mit Angehörigen anderer national-faschistischer Gruppen Verbindung aufgenommen, konkret: Er habe unter anderem persönlich dem Anführer der ukrainischen Nationalisten Bandera „die Weisung gegeben, sogleich nach dem Überfall Deutschlands auf Russland provokatorische Putsche in der Ukraine zu organisieren mit dem Ziele, die Sowjettruppen in ihrem unmittelbaren Hinterlande zu schwächen“.

Andrij Melnyk, inzwischen abberufener Botschafter der Ukraine in Deutschland, hielt am 8. Mai 2022 die Gedenkrede anlässlich des 77. Jahrestages der Befreiung im Brandenburger Landtag. Er sprach unter anderem von einem „riesigen blinden historischen Fleck in der deutschen Erinnerungskultur“ hinsichtlich der ukrainischen Kriegsopfer. Dem muss man uneingeschränkt zustimmen – aber wissen, dass Melnyk ein bekennender Verehrer Stepan Banderas ist und nach eigenen Worten „keine Belege“ für OUN-Verbrechen gegen Polen und Juden kennt.