Experten widersprechen Selenskyj: Russen bei Bachmut an Kapazitätsgrenze
Wolodymyr Selenskyj hat bei CNN gesagt, Bachmut sei so wichtig, weil russische Truppen nach einem Sieg weiter vordringen könnten. Nun widersprechen Experten.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky hat dem amerikanischen Fernsehsender CNN ein Interview gegeben, in dem er erklärt, warum er sich dazu entschieden hat, zusätzliche Kräfte in die umkämpfte ostukrainische Stadt Bachmut zu entsenden. „Dies ist eine taktische Entscheidung,“ sagte er. „Unserer Meinung nach werden sie (die Russen, Anm. d. Red.) nach Bachmut in der Lage sein, weiter zu gehen. Nach Kramatorsk, nach Slowjansk. Nach Bachmut werden die Russen eine offene Straße zu anderen ukrainischen Städten im Donezk-Gebiet haben. Deshalb verteidigen sich unsere Leute dort.“
Ukrainian President Volodymyr Zelensky says in an interview with CNN that Russian troops will have “open road” to capture key cities in eastern Ukraine if they seize control of Bakhmut https://t.co/e9zC5AggWY pic.twitter.com/Yw5nFJ523g
— CNN (@CNN) March 7, 2023
Die linksliberale polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza hat nun in einem Bericht am Mittwoch darauf hingewiesen, dass die Einschätzung von Wolodymyr Selensky nicht mit den Perspektiven internationaler Experten übereinstimmen würde. In dem Text der Gazeta Wyborcza heißt es: „Die hartnäckige Verteidigung von Bachmut ist umstritten, weil diese Bergbaustadt in der Region Donezk nach Ansicht der USA nur eine geringe Bedeutung hat. Am Montag wurde diese Diagnose von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bekräftigt, der ausdrücklich erklärte, dass Bachmut ‚eine symbolische, keine strategische Bedeutung‘ habe.“
Kann Russland weiterziehen?
Der Text weist auf Einschätzungen des amerikanischen Think Tanks „Institute for the Study of War“ (ISW) hin, dessen Experten behaupten, Bachmut habe durchaus eine strategisch wichtige Bedeutung. Nur in einem anderen Sinn, als es Selenskyj sagt. „Ein kontrollierter Rückzug aus der Stadt, ohne die Kämpfe zu unterbrechen, gibt den Ukrainern die Möglichkeit, Russland so schwere Verluste an Männern und Ausrüstung zuzufügen, dass Russlands Fähigkeit, seine Offensive fortzusetzen, zusammenbrechen wird. Analysten erinnern daran, dass ein ähnliches Manöver im vergangenen Frühjahr in der Ostukraine erfolgreich war“, schreibt die Gazeta Wyborcza.
Jewgeni Prigoschin, Chef der Wagner-Gruppe, dessen Einheiten für Wladimir Putin in der Ukraine kämpfen, hat am Mittwoch bekannt gegeben, dass er den Ostteil von Bachmut eingenommen habe. Das ISW hat diese Behauptung bestätigt und mitgeteilt, dass die Ukrainer bereits am Dienstag einen Rückzug aus dem östlichen Teil der Stadt vollzogen hätten. Die Gazeta Wyborcza gibt jedoch zu bedenken: „Die Einnahme von Ostbachmut kommt nicht überraschend, denn der Plan, dass sich die ukrainischen Streitkräfte zumindest aus einem Teil der Stadt zurückziehen, wird von Experten bereits seit mehreren Wochen diskutiert. Die Frage ist jedoch, ob Russland in der Lage ist, die gesamte Stadt einzunehmen und weiterzuziehen.“
Ukrainer hätten die Oberhand
Jewgeni Prigoschin gibt in einem aktuellen Video bekannt, dass er über weitere gut ausgebildete Soldaten verfüge, die darauf warten würden, weiter in die Ukraine zu schreiten und anzugreifen. Es sieht so aus, dass die Ukraine aktuell die Zufahrtsstraße T0504 in Bachmut verteidigen könnte, die für logistische Zwecke und aus Versorgungsgründen äußerst wichtig sei. Laut dem ISW könnten die Ukrainer diese Zufahrtsstrecke erfolgreich verteidigen und sogar Gegenangriffe umsetzen. In den nächsten Tagen könnte es zu entscheidenden Schlachten kommen für die Russen. Doch auch wenn diese für die russischen Truppen erfolgreich verlaufen würden, hätten die Einheiten nicht die notwendige Ausrüstung, um weiter in ukrainisches Gebiet vorzudringen. Hier sieht die Gazeta Wyborcza einen Widerspruch zu den Aussagen von Selenskyj, wonach die Russen nach Bachmut weitere Städte okkupieren könnten.
"You have not yet encountered a well-trained and equipped Russian army", says Prigozhin in a video standing next to a tank monument in Bakhmut. According to him, there turns out to be a secret Russian army ready to go when Bakhmut falls and operational space opens. pic.twitter.com/KIrjTgSbO3
— Dmitri (@wartranslated) March 8, 2023
„Die russischen Streitkräfte könnten versuchen, nach Westen in Richtung Kostjantyniwka (etwa 20 km von Bachmut entfernt) oder nach Nordwesten entlang der Straße E40 in Richtung Slawjansk-Kramatorsk (etwa 40 km von Bachmut entfernt) vorzustoßen. Diese beiden Angriffsrichtungen können aber nicht gleichzeitig genommen werden. Die russischen Streitkräfte müssten einer von ihnen den Vorrang geben, um überhaupt eine Aussicht auf Erfolg zu haben. Es ist jedoch anzumerken, dass die russischen Befehlshaber im Laufe des Krieges in der Ukraine ihre verfügbaren Kräfte wiederholt überfordert haben, um Angriffe in mehrere Richtungen gleichzeitig zu starten,“ heißt es bei ISW. Die Ukrainer seien gut vorbereitet auf ein solches Vorgehen. Sie hätten jetzt die Oberhand.
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