„Realitätsfremde Argumentation“: Oberst a. D. Richter im Klartext zu Waffenlieferungen

Ob bei Leopard-Panzern oder Kampfjets: Der öffentlichen Debatte um deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine fehlt es an analytischem Tiefgang, meint Oberst a. D. Wolfgang Richter in einem Gastbeitrag.

Bundesverteidigungsminister Pistorius besucht das Panzerbataillon 203 in der Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne in NRW. 
Bundesverteidigungsminister Pistorius besucht das Panzerbataillon 203 in der Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne in NRW. David Linderlied/imago

„Deutsche Führungsverantwortung“ beinhaltet mehr als Panzerlieferungen. Stets wird behauptet, Bundeskanzler Olaf Scholz unterstütze die Ukraine unzureichend, zögere zu lange, müsse zu Waffenlieferungen gedrängt werden und sei daher im Bündnis isoliert. Die deklarierten „roten Linien“ würden am Ende doch gerissen, wenn auch zu spät, so der Tenor

Diese Narrative sind falsch und vernebeln die politischen und militärischen Zusammenhänge.

Erstens, Deutschland steht bei Waffenlieferungen an die Ukraine – gemeinsam mit Großbritannien – an der Spitze Europas, wenn auch mit deutlichem Abstand zu den USA. Wer von Berlin fordert, die militärische Rolle der USA zu kopieren, zeigt realitätsfremde Selbstüberschätzung.

Zweitens, Deutschland ist im Bündnis keineswegs isoliert, auch wenn Polen und die baltischen Staaten regelmäßig mehr fordern. Vielmehr erwiesen sich manche Partner im „Leopard-2-Konsortium“ als eher zurückhaltend, nachdem Berlin entschieden hatte, gemeinsam mit den drei Nato-Atommächten Kampfpanzer zu liefern. Deutschland und Polen werden jeweils 14 liefern, Kanada, Spanien und Portugal jeweils vier bis sechs, die Niederlande wollen 18 von Deutschland geleaste Kampfpanzer bereitstellen, Dänemark eine ähnliche Zahl. Insgesamt sollen in einigen Wochen zwei Bataillone mit 80 bis 90 Leopard 2 übergeben werden.

Hinzu kommen 14 britische Challenger und – mittelfristig – 31 amerikanische Abrams-Kampfpanzer. Frankreich liefert leichte AMX-10RC-Radspähpanzer, aber keine Leclerc-Kampfpanzer. Italien, Griechenland und die Türkei werden keine Panzer abgeben.

Zusätzlich will Deutschland gemeinsam mit Dänemark und den Niederlanden mittelfristig bis zu 178 ausgemusterte Leopard-1-Kampfpanzer aus Industriebeständen bereitstellen. Auch Belgien erwägt einen Rückkauf. Bis Leopard-1-Kampfpanzer auf dem Gefechtsfeld erscheinen, dürften Monate vergehen. Erst dann könnte die Zielgröße von 300 westlichen Kampfpanzern erreicht sein, die Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert.

Drittens, die Bundesregierung hat keine „roten Linien“ bezüglich einzelner Waffenkategorien definiert. „Rote Linien“ gelten vielmehr ihren strategischen Effekten. Sie sind mit den Hauptverbündeten abgestimmt: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine darf nicht weiter eskalieren und die Nato oder einzelne Bündnispartner dürfen keine Kriegsparteien werden.

Warum Risikoabwägung keine „Feigheit“ ist

Die Risikoabwägung muss Eskalationsgefahren ebenso berücksichtigen wie die Folgen einer etwaigen Niederlage der Ukraine. Sie hätte dramatische Auswirkungen nicht nur für das Land selbst, sondern auch für die europäische Sicherheitsordnung und ihre grundlegenden Prinzipien. Eine völkerrechtswidrige Aggression, die darauf abzielt, ein Nachbarland zu unterwerfen oder umfangreiche Gebiete zu annektieren, darf nicht honoriert werden.

Selbst wenn man akzeptiert, dass auch Bündnispartner Völkerrecht gebrochen haben und dass Kiew gegenüber den prorussischen Bevölkerungsteilen Fehler gemacht hat, so ist doch das Ausmaß des russischen Eroberungskrieges in Europa seit 1945 unvergleichbar. Ein Erfolg Moskaus würde die Sicherheit Europas gefährden. Den ukrainischen Freiheitskampf auch durch Waffenlieferungen zu unterstützen, ist daher im nationalen und europäischen Interesse. Die Ukraine muss militärisch befähigt werden, ihre Souveränität und Unabhängigkeit zu verteidigen, bis Moskau seine Aggression einstellt und der Krieg durch Verhandlungen beendet werden kann.

Gleichwohl wäre es unverantwortlich, Risikoabwägungen leichtfertig vom Tisch zu wischen. Davon darf und wird sich der Bundeskanzler nicht treiben lassen, hat er doch einen Amtseid geleistet, das Wohl des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Risiken für Deutschland ergeben sich aus zwei unübersehbaren Fakten:

Erstens, während Russland über die meisten Atomwaffen weltweit verfügt, ist Deutschland eine Nichtnuklearmacht.

Zweitens, Deutschland liegt als strategische Drehscheibe der Nato im geopolitischen Zentrum Europas. Von jedem militärischen Konflikt zwischen Bündnispartnern und Russland wäre Deutschland daher ebenso schwer betroffen wie ein „Frontstaat“. Auch ein „begrenzter“ Atomkrieg hätte für Mitteleuropa verheerende Folgen. Deutschland trägt Verantwortung für die Sicherheit und Verteidigung Europas.

Zweifellos lassen sich gute Gründe finden, warum auch Moskau eine nukleare Eskalation als irrational bewerten sollte:

1. Die Militärdoktrin Russlands sieht einen Atomwaffeneinsatz nur dann vor, wenn es selbst mit Atomwaffen angegriffen wird oder wenn seine staatliche Existenz durch einen konventionellen Angriff bedroht ist.

2. Ein taktischer Ersteinsatz in der Ukraine würde russische Truppen gefährden, annektierte „russische“ Territorien zerstören und „russische Landsleute“ vernichten.

3. Er würde das nukleare Tabu brechen, das seit 1945 gilt. Dies würde die Welt verändern – wahrscheinlich mit dramatischen Folgen: Das Nichtverbreitungsregime würde kollabieren; Russland wäre weltweit isoliert, auch von sein „Freunden“; China hat sich dazu klar positioniert; der Westen dürfte einen nuklearen Tabubruch nicht hinnehmen; Moskau müsste mit einer militärischen Reaktion rechnen.

4. Ein nuklearer Angriff auf Nato-Gebiet könnte ein Inferno auslösen, das auch Russland in den Abgrund reißen würde.

Gleichwohl kann nicht verlässlich prognostiziert werden, wie der Führungszirkel um Präsident Wladimir Putin reagieren würde, wenn sein politisches und vielleicht sogar physisches Überleben in Gefahr gerät. Dann könnten sich Kosten-Nutzenkalküle verändern. Wo das nukleare Eskalationsrisiko auf einer Wahrscheinlichkeitsskala zu verorten ist, lässt sich nicht sicher sagen. Aber schon die Tatsache, dass man es nicht vollständig ausschließen kann, ist in Relation zu den möglichen Folgen eines Atomkriegs nicht hinnehmbar. Auch eine konventionelle Eskalation – sei es durch eine Intensivierung des strategischen Luftkriegs oder eine territoriale Kriegsausweitung – kann verheerende Folgen haben und muss vermieden werden.

Der Westen sollte sich zu Kriegszielen zurückhaltend äußern

Aus der Sicht Moskaus könnten sich existenzbedrohende Szenarien dann entwickeln, wenn die russische Armee eine Totalniederlage erleidet, die nur noch mit einem westlichen Angriff erklärt werden kann. Der Westen sollte sich daher zu Kriegszielen zurückhaltend äußern, wenn er Einzelentscheidungen über Waffenlieferungen trifft. Auf ihre strategische Wirkung kommt es an. Sie kann sich je nach Kriegsverlauf verändern. Aber einen „Sieg“ über die russischen Streitkräfte oder sogar ihren Ruin für die nächsten Dekaden als Kriegsziel zu postulieren, ist grob fahrlässig und unverantwortlich. Die Vorsicht des Kanzlers bei der Definition des Ziels ist daher richtig: Die Ukraine darf den Krieg „nicht verlieren“.

Polnische und ukrainische Soldaten am 13. Februar 2023 auf einem Leopard-2-A4-Panzer während eines Trainings auf der Militärbasis Swietoszow in Westpolen 
Polnische und ukrainische Soldaten am 13. Februar 2023 auf einem Leopard-2-A4-Panzer während eines Trainings auf der Militärbasis Swietoszow in Westpolen Wojtek Radwaski/AFP

Waffenlieferungen können daher nur in dem Maße erfolgen, in dem eine Eskalation nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden kann. Daher liefern die USA bisher keine weitreichenden Raketen für die Himars-Systeme, die Ziele im russischen Kerngebiet treffen könnten. Kiew musste zusichern, auch mit anderen Waffen aus den USA nicht Ziele in Russland anzugreifen. Zudem sollen Moskauer Narrative nicht bedient werden, dass es sich etwa um ein Duell zwischen russischen und deutschen (oder amerikanischen) Kampfpanzern handelt. Putin hat dieses Bild anlässlich des Jahrestags der Schlacht von Stalingrad bereits bemüht und auf die „deutschen Leoparden mit dem Kreuz“ verwiesen.

Die Entscheidung der Nichtatommacht Deutschland war richtig, nach sorgfältiger Risikoabwägung Kampfpanzer nicht im nationalen Alleingang, sondern nur im Konzert mit den anderen Atommächten der Nato zu liefern und so für eine ausgewogene Lasten- und Risikoteilung zu sorgen. Dies wäre nicht erreicht worden, hätte Berlin nur das „Leopard-Konsortium“ angeführt, denn es hätte sich weiterhin um einen „deutschen“ Kampfpanzer und eine deutsche Exportentscheidung gehandelt.

Strategie und Taktik: Was in der deutschen Panzer-Diskussion ignoriert wird

In der öffentlichen Diskussion wurde der Eindruck erweckt, dass die deutschen Leopard-Kampfpanzer es Kiew ermöglichen werden, eine entscheidende Frühjahrsoffensive zu führen, um verlorene Gebiete zurückzugewinnen und die Kriegswende zu erzwingen. Die Verfechter dieser These haben dabei konsequent den Unterschied zwischen Strategie und Taktik und die Rolle des Kampfpanzers im Gefecht verbundener Waffen ignoriert.

Zweifellos ist der Leopard 2, vor allem die Modelle A6 und A7V, den russischen Standardkampfpanzern qualitativ überlegen. Das gilt für den Panzerschutz, die Beweglichkeit im Gelände, die digitalisierte Zieleinrichtung sowie die hohe Reichweite und Durchschlagskraft seiner stabilisierten 120-mm-Glattrohrkanone. Hohe Überlebensfähigkeit unter Feindfeuer, große Treffpräzision und rasche Schussfolge auch in der Bewegung zeichnen ihn aus.

Gleichwohl ist der Kampfpanzer keine Wunderwaffe. Nicht immer wird er seine überlegene Qualität in einer Duellsituation ausspielen können. Eine hohe quantitative Überlegenheit des Gegners kann er nur begrenzt ausgleichen. Seine Wirksamkeit hängt von den Gefechtsbedingungen ab, also von den Möglichkeiten und Einschränkungen, die das Gelände bietet, der Stärke und den Fähigkeiten des Gegners sowie der eigenen Kräfte, mit denen er zusammenarbeiten muss: Aufklärung, Information und sichere Verbindungen, Unterstützung durch leichte und gepanzerte Infanterie in unübersichtlichem und bebautem Gelände, Feuerunterstützung durch die Artillerie gegen die Panzerabwehr und Artillerie des Gegners, Flugabwehr, Pioniere, Luftunterstützung sowie eine funktionierende Logistik.

Im Gefecht kommt es darauf an, alle diese Faktoren bestmöglich zur Geltung zu bringen. Dazu müssen Kräfte, Zeit und Raum effektiv koordiniert sowie Feuer und Bewegung geschickt aufeinander abgestimmt werden, um überraschend Schwerpunkte zu bilden und die örtliche Überlegenheit zu erzielen. Dies erfordert taktische Führungsüberlegenheit im Gefecht verbundener Waffen.

Ein Kräftevergleich gibt keinen Anlass zur Euphorie

Doch die Taktik wirkt sich nur in begrenzten Räumen aus. So könnten die zwei bis drei Panzerbataillone, die der Westen liefern will, den Kern von ein bis zwei gepanzerten Brigaden mit einer Gefechtsbreite von 15 bis 30 Kilometern im Angriff bilden. Dies sollte nicht mit Strategie verwechselt werden. Um kriegsentscheidende Wendepunkte herbeizuführen, wären raumgreifende Durchbruchsoperationen nötig, die Schlüsselabschnitte der Gesamtfrontlänge von 1200 Kilometern ins Wanken bringen oder wenigstens Teilerfolge erzielen, etwa den Durchbruch durch den russisch besetzten Korridor zwischen Saporischschja und dem Asowschen Meer. Dies verlangt die Fähigkeit, eine Serie erfolgreicher Gefechte bestehen und Verluste ausgleichen zu können.

Für eine Bewertung strategischer Fähigkeiten müssen alle Kräfte und Ressourcen beider Seiten betrachtet werden. Hierzu gehören die operativen Reserven in Frontnähe, die Mobilisierungsmasse und die logistische Durchhaltefähigkeit ebenso wie die Kräfte und Fähigkeiten der Luftwaffe und der Marine mit ihren Raketen und Marschflugkörpern. Ein solcher Kräftevergleich wird jedoch öffentlich nicht angestellt. Denn er gäbe keinen Anlass zur Euphorie.

Der Westen ist auf eine Kriegswirtschaft bisher nicht eingestellt

Bei Kriegsbeginn verfügte Kiew über eine starke Rüstungsproduktion und mit circa 1100 aktiven Kampfpanzern sowjetischer Bauart (und weiteren 1100 in Lagern) über die zweitstärkste Panzertruppe in Europa nach Russland. Doch hat sie im Kriegsverlauf mehrere hundert Kampfpanzer verloren. Sie wurden zum Teil durch ähnliche Panzertypen aus den Arsenalen der östlichen Nato-Partner ausgeglichen. Die dort entstandenen Lücken sollten durch deutsche Leopard-Kampfpanzer aufgefüllt werden.

Durch den „Ringtausch“ konnte die ukrainische Armee vertraute Systeme ohne weitere Ausbildung übernehmen und logistisch versorgen. Diese Option kommt im zweiten Kriegsjahr zum Erliegen. Die Bestände der östlichen Nato-Partner sind begrenzt, die ukrainische Rüstungsproduktion ist geschwächt, für die Ersatzteil- und Munitionsversorgung der vielen westlichen Systeme, die schon im Einsatz sind, ist sie nicht ausgerüstet. Die Ukraine ist daher zunehmend auf westliche Lieferungen angewiesen.

Doch der Westen ist auf eine Kriegswirtschaft bisher nicht eingestellt. Die Ukraine verschießt an einem oder zwei Tagen so viel Artilleriemunition, wie die deutsche Rüstungsindustrie bisher in einem halben Jahr produziert hat. Zudem stehen Waffenlieferungen in Konkurrenz zu den eigenen Verteidigungsverpflichtungen. Insbesondere Abgaben aus den aktiven Beständen des deutschen Heeres gehen zu Lasten des Eigenbedarfs für die Landes- und Bündnisverteidigung.

Neben den laufenden Auslandseinsätzen und der Aufrechterhaltung des Ausbildungsbetriebes hat das Heer den aktuellen Auftrag, eine vollausgerüstete Brigade für die Verteidigung Litauens und eine weitere als „Speerspitze“ der Nato-Reaktionskräfte zu stellen. In wenigen Jahren soll es in der Lage sein, für die Nato-Vorneverteidigung drei voll ausgestattete Divisionen bereitzustellen. Doch ist es von seiner Sollstärke und der erforderlichen Vollausstattung noch weit entfernt.

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Privatarchiv
Zum Autor
Oberst a. D. Wolfgang Richter, geb. 1949 in Bremen, diente im Deutschen Heer, im Bundesverteidigungsministerium, in der Nato und in deutschen Vertretungen bei den Vereinten Nationen und der OSZE in Generalstabs- und Führungsverwendungen. Von 1996 bis 2009 war er für die globale und europäische Rüstungskontrolle zuständig, unter anderem als leitender Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung in Wien. Seit 2010 ist er als Experte für Sicherheitspolitik und Rüstungskontrolle tätig, zuletzt unter anderem für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Heute lebt Richter in Wien.

Die Lage anderer europäischer Partner ist nicht viel besser. Bei Lieferentscheidungen für die Ukraine muss man die Auswirkungen auf die Bündnisverteidigung bedenken. Auch hier ist sorgfältig abzuwägen, wie weit die ohnehin zu knappen aktiven Bestände reduziert werden können, wo auf ältere Industriebestände zurückgegriffen und wie schnell die Neuproduktion hochgefahren werden kann. Dabei handelt es sich um langfristige Prozesse, die sich erst nach Monaten oder Jahren auswirken werden.

Russland kann auf große nationale Reserven zurückgreifen, anders die Ukraine

Anders als die Ukraine kann Russland auf große nationale Reserven zurückgreifen. Zu Kriegsbeginn verfügten die russischen Landstreitkräfte über etwa 3400 Kampfpanzer in den aktiven Beständen. Etwa zwei Drittel davon wurden im Februar 2022 für die Invasion der Ukraine bereitgestellt, allerdings zersplittert in vier bis sechs breit gefächerten Angriffsachsen. Im ersten Kriegsjahr dürfte die russische Armee deutlich über 1000 Kampfpanzer verloren haben, und damit die quantitative Überlegenheit über die ukrainischen Frontkräfte. Um dies zu kompensieren, hat Moskau im Spätsommer eine zeitaufwendige personelle und materielle Mobilisierung eingeleitet und gleichzeitig den strategischen Luftkrieg gegen die ukrainische Energieinfrastruktur verschärft.

Derzeit führt die russische Armee umfangreiche Reservekräfte an die Front. Sie kann auf große materielle Bestände in den Depots zurückgreifen, wo am Anfang des Jahres 2022 über 10.000 Kampfpanzer, 8500 Schützenpanzer und Tausende von Artilleriegeschützen und Raketenwerfern lagerten. Es handelt sich dabei zwar nicht um das modernste Material, aber doch um eine bewährte Standardausrüstung, die im Gefecht eine erhebliche Kampfkraft entfalten kann. Allerdings dürfte es nach langer Lagerzeit nicht im besten Zustand sein. Doch Russland hat die letzten Monate genutzt, um einen Teil zu reaktivieren. Wenn es Moskau gelänge, auch nur ein Fünftel dieses Bestandes wieder einsatzbereit zu machen, so muss die Ukraine mit einer neuen Angriffswelle rechnen, die der vom Februar 2022 nicht nachsteht.

Die Argumentationsmuster wiederholen sich

Die innerdeutsche Debatte hat sich nun der Lieferung von Kampfflugzeugen zugewendet. Es ist zu befürchten, dass sich die Argumentationsmuster wiederholen. Erneut werden Risiken ausgeblendet und militärische Zusammenhänge ignoriert. Ein Einsatz von Kampfflugzeugen zur Luftverteidigung am ukrainischen Himmel trägt wenig zur Abwehr von Raketen und Marschflugkörpern bei, die aus dem russischen Land- und Luftraum oder vom Schwarzen Meer aus gestartet werden. Um solche Angriffe zu unterbinden, müssten die russischen Kräfte an ihren Basen angegriffen und vorher ihre Luftverteidigung ausgeschaltet werden. Damit würde der Krieg mit westlichen Waffen auf russisches Territorium getragen.

Um die ukrainischen Bodentruppen im Kampf aus der Luft zu unterstützen, müssten Kampfflugzeuge zunächst die Flugabwehr des Gegners an der Front ausschalten und das Problem der Freund-Feind-Kennung in verzahnten Gefechtslagen meistern. Anderenfalls würden sie rasche und hohe Verluste erleiden. Aus dem gleichen Grund wären für Angriffe gegen russische Artilleriestellungen und Depots in der Tiefe weitreichende Abstandswaffen nötig. Sie könnten auch für Angriffe auf das Territorium Russlands verwendet werden.

Ein Kampfflugzeug vom Typ Eurofighter Typhoon der Luftwaffe
Ein Kampfflugzeug vom Typ Eurofighter Typhoon der LuftwaffeHauke-Christian Dittrich/dpa

Zudem stellt sich die Frage, von welchen Basen aus westliche Kampfflugzeuge operieren sollen und wie sie gegen Luft- und Raketenangriffe geschützt werden könnten. Die Ausbildung an westlichen Systemen und die Aufstellung des logistischen Unterstützungssystems würden viele Monate, wahrscheinlich Jahre dauern. Und letztlich müssen auch hier die strategischen Ressourcen beider Seiten betrachtet werden. Die russischen Luftstreitkräfte (über 1300 Kampfflugzeuge) sind denen der Ukraine um den Faktor zehn überlegen. Was die Ukraine im Luftkrieg vor allem braucht, sind Aufklärungs- und Kampfdrohnen sowie eine wirksame bodengebundene Luft- und Raketenabwehr.

Fazit

Forsche Aussagen über eine strategische Kriegswende, die 90 Leoparden und 60 andere westliche Kampfpanzer sowie einige Dutzend Kampfflugzeuge im Verbund mit den verbliebenen ukrainischen Kräften bis zum Sommer erzwingen sollen, erscheinen angesichts des aktuellen Kräftevergleichs reichlich optimistisch. Dies gilt auch dann, wenn man in Rechnung stellt, dass die Schätzungen über Verluste und Reserven beider Seiten unsicher sind und dass die ukrainische Führung und Kampfmoral sich bisher als überlegen erwiesen haben. Die russische Lern- und Durchhaltefähigkeit sollte jedoch nicht unterschätzt werden.

Auch die westliche Erwartung, dass Wirtschaftssanktionen die russische Kriegsproduktion zum Erliegen bringen, hat sich bisher nicht erfüllt. Trotz spürbarer Einschränkungen produziert die russische Rüstungsindustrie weiter. Offenbar ist die nationale Resilienz höher als erwartet. Zum anderen hat sich der „globale Süden“ trotz intensiver westlicher Bemühungen den Sanktionen nicht angeschlossen. Somit dürfte der Abnutzungskrieg in der Ukraine eine neue Eskalationsstufe erreichen.

Erst wenn die Akteure begreifen, dass die Verluste, die sie bei der Fortsetzung des Krieges erleiden, in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu den möglichen Gewinnen stehen, und dass sie daher maximale Kriegsziele aufgeben müssen, dürfte sich ein Fenster für Verhandlungen öffnen. Deutsche „Führungsverantwortung“ bedeutet auch, Wege zu eruieren, wie der Westen dazu beitragen kann.

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