Strack-Zimmermann im Interview: „Hundert Kilometer östlich von Moskau tanzt kein Ballett“

Die FDP-Verteidigungsexpertin im Gespräch über Kampfjets für die Ukraine, den Zoff mit der SPD und die Frage, ob Politiker öfter schweigen sollten.

Strack-Zimmermann
Strack-ZimmermannMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat aufreibende Monate hinter sich: der Krieg in der Ukraine, die Debatte über Waffenlieferungen, die Streitigkeiten mit der SPD. In kurzer Zeit wurde die FDP-Verteidigungsexpertin zu einer der exponiertesten Politikerinnen des Landes.

Zweifelt sie manchmal? Und was sagt sie eigentlich dazu, dass ihr die Wahlniederlage der Berliner FDP angelastet wird?

So aufreibend diese Monate waren, Strack-Zimmermann sind sie nicht anzumerken. Sie spricht ruhig, ist zugewandt. Zum Interview mit der Berliner Zeitung empfängt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in ihrem Büro in den Räumen des Deutschen Bundestags.

Berliner Zeitung: Frau Strack-Zimmermann, Sie waren in den vergangenen Monaten eine der schärfsten Kritikerinnen des Kanzlers. Erst kürzlich haben Sie sich öffentlich mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gestritten. Wie schlimm finden Sie es eigentlich, mit den Sozialdemokraten zu regieren?

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Die Diskussion über Waffenlieferungen an die Ukraine hätte jede Regierung geführt, egal in welcher parteipolitischen Konstellation. Die Union und die SPD haben in der großen Koalition sage und schreibe über ein Jahrzehnt über bewaffnete Drohnen und über die Nachfolge des „Tornado“-Kampfflugzeugs gestritten, wissend, dass die Bundeswehr beides dringend benötigt. Die Ampel-Regierung hat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine diese Entscheidungen sofort getroffen. Uns ist allen klar, wir dürfen keine Zeit verlieren. In der Ukraine werden jeden Tag Menschen von russischen Soldaten ermordet, gefoltert und vergewaltigt.

Bei den bewaffneten Drohnen waren es ebenfalls die Sozialdemokraten, die sich lange gesträubt haben. Was im Jahr 2020 sogar so weit führte, dass der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Fritz Felgentreu, der sich für die Beschaffung einsetzte, sein Amt niederlegte …

… und bedauerlicherweise auch nicht mehr für den Bundestag kandidierte. Ein toller Kollege mit unheimlicher Fach-Expertise.

Fehlt Ihnen so jemand in der SPD, als Mitstreiter in der Koalition?

Die Mehrheit im Ausschuss mag im Detail unterschiedliche Sichtweisen haben, was auch mit unterschiedlicher politischer Prägung zu tun hat, bei der Einschätzung in sicherheitspolitischen Fragen aber ziehen die Sozialdemokraten, die Freien Demokraten und die Grünen im Ausschuss an einem Strang. Dass die Entscheidung, neben anderen Waffen auch Schützen- und Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, so viel Zeit gekostet hat, bleibt allerdings ein großer Fehler. In den Dörfern um Bachmut tobt seit Wochen ein heftiger Kampf. Um russische Stellungen zurückzudrängen, braucht es eben auch Panzer. Noch im Oktober habe ich in Kiew mit Kolleginnen aus dem ukrainischen Parlament gesprochen. Sie haben mir berichtet, was ihre Männer an der Front erleben. Wir müssen daher auch innerhalb der Bundesregierung Debatten zulassen. Viel Zeit dafür haben wir allerdings nicht.

Sie haben Rolf Mützenich als „Sinnbild aller zentralen Verfehlungen deutscher Außenpolitik“ bezeichnet. War das im Sinne der Debatten?

Wir sind doch nicht in einer Spielgruppe. Es geht um nicht weniger als um die Zukunft unserer Grundwerte von Demokratie und Freiheit. Viele Gewissheiten stehen Kopf, weil tragischerweise die Regierung in der Vergangenheit nicht richtig hingesehen – und vor allem nicht entsprechend reagiert hat. Dabei lief der erste große russische Angriff, die Annexion der Krim und der Überfall auf den Donbass, bereits seit 2014.

Haben Sie sich mittlerweile mit dem SPD-Fraktionschef ausgesprochen?

Wir sind grundsätzlich unterschiedlicher Meinung.

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Markus Wächter/Berliner Zeitung
Zur Person
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, 1958 in Düsseldorf geboren, ist FDP-Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Bundesvorstand ihrer Partei. Im Bundestag ist sie Vorsitzende des Verteidigungsausschusses. Strack-Zimmermann hat Publizistik, Politik und Germanistik in München studiert, wo sie später auch promovierte. Sie war Verlagsrepräsentantin für den Jugendbuchverlag Tessloff. Von 2008 bis 2014 war sie Erste Bürgermeisterin von Düsseldorf.

Was fehlt denn, damit die Deutschen ihre alten Gewissheiten aufgeben? Mehr Angst vor einem Krieg?

Keiner gibt Gewissheiten freiwillig auf. Gewissheiten verlieren sich, wenn die Umstände sich ändern. Angst vor Veränderungen zu haben, ist allerdings der falsche Ratgeber. In herausfordernden Zeiten sollte man unbedingt Ruhe, aber auch den Überblick bewahren. Für viele war Russland reduziert auf Sankt Petersburg, Moskau, Bolschoi-Theater, Staatsballett. Wir haben uns auf das Licht konzentriert, aber den riesigen Schatten nicht wahrnehmen wollen. Hundert Kilometer östlich von Moskau tanzt kein Ballett. Dort gibt es bittere Armut, archaische Strukturen, wo der Stärkere den Schwächeren malträtiert.

Glauben Sie denn nicht, dass es Menschen auch Angst macht, wenn eine Spitzenpolitikerin wie Sie vehement mehr Waffenlieferungen fordert?

Wir können doch nicht die Augen davor verschließen, was in der Ukraine passiert. Von einer Politikerin erwarte ich Ehrlichkeit und Offenheit. Manche sind dankbar dafür, andere finden das anstrengend. Es gibt aber nichts zu relativieren. In der Ukraine werden seit einem Jahr Zivilisten getötet, Frauen vergewaltig und Kinder verschleppt. Kürzlich entdeckte Massengräber und Folterkammern offenbaren das Grauen. Da bedarf es ehrlicher Antworten. Die Geschichte wird uns später zeigen, ob wir uns für den richtigen Weg entschieden haben.

In der Debatte über die Waffenlieferungen wirkten Sie zuletzt etwas zurückhaltender. Hat Ihr Parteichef Christian Lindner seine Verteidigungsexpertin auf Kurs gebracht?

Mit der Entscheidung der Bundesregierung, „Leopard“-Panzer zu liefern und die ukrainischen Soldaten daran auszubilden, ist das geschehen, was die Freien Demokraten lange gefordert haben. Wir diskutieren hier ja nicht der Diskussion wegen, sondern um ein Ziel zu erreichen. Deshalb muss anschließend auch nicht jeder Augenblick diesbezüglich weiter kommentiert werden. Davon mal ganz abgesehen, dass zu viel Öffentlichkeit die Hilfe für die Ukraine auch gefährden könnte.

Sollten Politiker generell öfter schweigen?

Die Menschen, die uns gewählt haben, wollen wissen, was wir tun. Manchmal wären weniger Verlautbarungen vermutlich mehr. Aber dann dürfen Sie als Journalistinnen und Journalisten uns auch nicht immer fragen.

Gilt das mit den Verlautbarungen auch für Sie selbst?

Auch ich sollte nicht über jedes Stöckchen springen, was hingehalten wird, und auch nicht zu voreilig. Politik wird meist aus dem Jetzt heraus gemacht. Ideal ist es, sich mehr mit der Zukunft zu beschäftigen. Was können wir heute tun, damit es eines Tages besser oder anders wird? Die Realität ist aber häufig eine andere. Es geschehen unvorhersehbare Dinge, die sofort eine Antwort erfordern. Politische Entscheidungsträger werden dann schnell zu Gejagten.

„Die Ukraine wird diesen Krieg nicht verlieren.“
„Die Ukraine wird diesen Krieg nicht verlieren.“Markus Wächter/Berliner Zeitung

Wer entscheidet eigentlich, welche Waffen die Ukraine braucht? Sie waren ja lange auf einer Linie mit Kiew, bei Kampfjets aber haben Sie nun widersprochen.

Dass die Ukraine um alles bittet, was sie benötigt, um diesen schrecklichen Krieg nicht zu verlieren, verstehe ich. Dass allerdings just am Tag der Bekanntgabe von „Leopard“-Lieferungen nach Kampfflugzeugen gerufen wurde, fand ich unklug.

Warum?

Weil wir trotz der geringen Zeit, die uns für Entscheidungen bleibt, die Menschen in Deutschland mitnehmen müssen. Der Einsatz von Kampfflugzeugen hat zudem eine andere Dimension als der der Panzer zum Beispiel. Das fängt bereits mit der Ausbildung am System an. Zudem muss nicht jedes Land in Europa die gleichen Waffen liefern. Deutschland sollte sich jetzt darauf konzentrieren, die Schützenpanzer „Marder“ und Kampfpanzer „Leopard“ schnellstmöglich in die Ukraine zu verlegen.

Sie haben Ihre Haltung auch mit der Entscheidung gegen eine Flugverbotszone begründete, die von der Nato abgelehnt wird, weil sie dann selbst in den Krieg verwickelt werden könnte. Aber ist es nicht etwas anderes, wenn ukrainische Soldaten in den Jets säßen?

Es kämpfen grundsätzlich nur ukrainische Soldaten in der Ukraine. Um die eigenen Flugzeuge zu schützen, müssten auch russische Stellungen auf russischem Territorium ausgeschaltet werden, während Panzer dazu dienen, die von Russland besetzten ostukrainischen Gebiete wieder zu befreien.

Was, wenn die Ukraine diesen Krieg verliert?

Die Ukraine wird diesen Krieg nicht verlieren. Im Gegensatz zu Russland, welches den Krieg bereits verloren hat. Alle russischen Pläne, mal soeben die Ukraine einzunehmen, haben nicht funktioniert. Die Ukrainer verteidigen sich, die EU und die Nato stehen zusammen und unterstützen die Ukraine. Damit hat Putin nicht gerechnet, der diese Bündnisse nie ernst genommen hat.

Gibt es eigentlich Momente, in denen Sie zweifeln?

Wir alle können natürlich immer nur aus dem Augenblick heraus entscheiden. Beim „Gepard“-Flugabwehrpanzer haben viele gelächelt und sich gefragt, was wir denn damit wollen, der sei doch viel zu alt. Heute stehen weit über 30 „Gepards“ in der Ukraine. Unter anderem, um Häfen zu schützen, damit Getreide verladen und verschifft werden kann.

Kein Zweifel, in all den Monaten seit Kriegsbeginn?

Eher Verzweiflung, wenn wir nicht planen, wie wir auch in Zukunft die Ukraine unterstützen können. Es gibt für mich einen unvergesslichen Moment. Das war drei Tage vor dem 24. Februar 2022. Uns erreichte die Nachricht, dass Putin die selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk anerkannt und dies per Dekret im Kreml unterschrieben habe. Journalisten, die mich darauf ansprachen, antwortete ich, dass dies eine Kriegserklärung sei. Manche waren überrascht ob meiner Wortwahl. Drei Tage später marschierten russische Truppen in die Ukraine ein.

Was fürchten Sie, wie lange dieser Krieg noch dauert?

Das weiß ich nicht. Auch in Kriegen wird versucht, zwischen den Kriegsgegnern im Hintergrund Kontakt zu halten. Außer dem Gefangenenaustausch ist Russland verschlossen. Russland kann den Krieg heute noch beenden, wenn es die Truppen zurückzieht. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, geht sie nicht nur unter, sondern auch die Nachbarn wären vom russischen, imperialistischen Größenwahn bedroht. Daher kann es nur Gespräche geben, aus der Stärke der Ukraine heraus.

Vor einigen Wochen sind Sie mit einer FDP-Delegation nach Taiwan geflogen. Warum waren Ihre Koalitionspartner nicht dabei?

Es gab mal Überlegung für eine gemeinsame Reise. Die gestaltete sich terminlich als schwierig. Daher sind wir ausschließlich als Freie Demokraten gereist.

Was haben Sie von der Reise mitgenommen?

Das waren sehr interessante Gespräche. Die taiwanische Regierung erhofft sich von uns, dass wir angesichts der Drohungen Chinas Taiwan gegenüber unser Verhältnis zu China hinterfragen und die Investitionen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten abbauen. China schaut genau darauf, wie resilient der Westen gegenüber Russland ist und welche Auswirkungen der Krieg über die Ukraine hinaus hat. Die Chinesen, auch wenn sie unser freiheitliches System ablehnen, haben kein Interesse an einem sicherheitspolitisch destabilisierten Europa. Sie sind auch von unseren Märkten und unserem technischen Know-how abhängig. Weltpolitik ist sehr komplex. Es ist wie bei einem selbst zusammengebauten Bücherregal: Wenn eine Schraube nicht richtig sitzt oder übrig bleibt, ist nichts mehr im Lot. Alles hängt mit allem zusammen. Einfache Antworten gibt es nicht.

Das gilt wohl auch für die Situation der FDP, die in Berlin die fünfte Landtagswahl in Folge verloren hat. Viele Ihrer früheren Wähler haben sich nun für die CDU entschieden. Haben Sie Friedrich Merz einmal zu oft an Karneval beleidigt? Es soll diesbezüglich ja Unmut in Ihrer eigenen Partei geben.

Wer ernsthaft glaubt, dass eine Büttenrede eine Wahl, geschweige denn die Situation einer Partei entscheidet, glaubt auch, dass der Zitronenfalter Zitronen faltet.